Prolog - Die Heimkehr

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Manche der besten Tage fangen mit wilden Blitzen und strömendem Regen an; genau wie manche Tragödien unter strahlend blauem Himmel stattfinden.

Dieser Morgen hatte nichts von beidem für mich bereit gehalten. Es war zu früh für die ersten Sonnenstrahlen und zu spät für einen Rückzieher gewesen, als ich aufgewacht war. Nur wenige Stunden später stand ich nun viele Kilometer entfernt von meinem warmen Bett mit beiden Beinen im Morast, umgeben von der Stille des tiefsten Walds. Keine Vögel feierten die Morgensonne, die den Herbstnebel zum Leuchten brachte, und die frische Brise war mehr ein kalter Zug, der meine dunklen Haare verknotete und mir Gänsehaut bescherte.

Meine Füße lotsten mich trotz der widrigen Umstände wie von selbst über die schmalen Waldwege und morastigen Böden. Der Raureif knisterte unter den Sohlen meiner Sneaker, bis ich mich an der Grenze wiederfand, die ich gesucht hatte und für einen Moment verharrte.
Realistisch gesehen war es lange zu spät, um umzukehren. Das Flugticket war aufgebraucht, der Chauffeur hatte sich in Luft aufgelöst und ich würde es niemals zu Fuß ins nächste Dorf schaffen, bevor mich Kälte, Nässe und Ermüdung einholten. Trotzdem verlangte alles in mir danach, es zu versuchen. Ein letztes Aufbäumen meines lebenslangen Wunschs, den Boden vor mir nie wieder zu betreten.

Dann straffte ich die Schultern und atmete die klare Waldluft ein, bevor ich den ersten Fuß aus dem Schlamm zerrte.

Ich brach durch die Waldgrenze und betrat die Siedlung, die hinter dem Schleier auf mich wartete. Auf den ersten Blick hatte sich nichts seit meinem letzten Besuch vor zwei Jahren verändert. Versprengt ragten Holzhäuser ragten aus der Wildwiese, von Wind und Wetter mitgenommen. Zusammengehalten wurden sie nur noch von einer Handvoll rostiger Nägel und Gewohnheit. Einst hatten hier die ersten Nachtalben der Gemeinschaft gewohnt; doch seit der Errichtung der gemauerten Wohnblöcke dienten die alten Gebäude nur noch als Lager oder Werkstätten. Zwischen ihnen sprossen wilde Blumen, dornige Büsche und sattgrüne Gräser, deren taubedeckte Spitzen mich im Vorbeigehen streiften.

Meine Kleidung war noch klamm von den wenigen Metern, die ich im winterlichen Wald zu Fuß zurückgelegt hatte. Nun wärmte sie sich nach und nach auf; trotz der feuchten Gräser durch die ich watete. Zwischen Nadelwäldern und schneebedeckten Küsten gelegen verdankte es dieser Ort den Überresten der blauen Schlacht, dass seine Bewohner wenig von den harschen Umweltbedingungen der Umgebung spürten – und dass die Gemeinschaft für Außenstehende ein gut gehütetes Geheimnis blieb. Das Blut und die Magie unzähliger Alben war zu Urzeiten in den Boden geflossen, wodurch ein sicheres Versteck für die letzten Überlebenden entstanden war.

Anders betrachtet war die Gemeinschaft dadurch zum perfekten Gefängnis geworden: Besuch oder Hilfe von außen war nicht zu erwarten. Unsere Vorfahren hatten die Abgeschiedenheit, die absolute Unabhängigkeit von der menschlichen Welt und von Alfheim gesucht; sie hatten sie hier in Vollendung vorgefunden.

Ich passierte noch eine weitere Ansammlung von Holzhütten, bevor der feine Nebel, der über der Wiese hing, lichter wurde und eine lange, u-förmige Kette von Ziegelgebäuden enthüllte. Der Ziegel war nicht minder bunt als die Wiese, die ich hinter mir gelassen hatte. Braune Ranken, dunkelgrüne Moosstücke und rote Flechten lieferten sich einen erbitterten Stellungskampf mit sorglos aufgetragenem weißen Verputz, der bereits seit Gründertagen andauern musste. Der Geruch von feuchtem Stein und aufgeweichtem Erdboden begleitete mich auf meinem Weg durch einen der Durchgänge, die das Erdgeschoss des langen Gebäudes wie Adern durchzogen. Wassertropfen perlten von den Wänden des Tunnels, dessen Ende sich als leuchtende Öffnung vor mir auftat.

Noch ein paar Schritte und ich befand mich im Herz der Gemeinschaft. Sorgfältig hatte man die Lebensquelle unserer Leute zwischen den Ziegelbauten versteckt, um sie vor neugierigen Augen und Angriffen zu schützen: Der gewaltige Baum thronte zwischen den Gebäuden, die ihn kreisförmig umschlossen. Seine knorrigen Äste erstreckten sich wie der Baldachin eines Himmelbetts über den Platz und warfen fächerartige Schatten über den Boden. Man wusste ohne nachzufragen, dass dieser Baum älter sein musste als die Ziegelgebäude selbst – und vielleicht sogar älter als die Holzhütten der ersten Siedler.

Die Gemeinschaft der Nachtalben - Band IIWhere stories live. Discover now