Kapitel 11

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Mein Mund wurde trocken, aber nicht vor Überraschung. Ich kannte diesen Text. Ich sah ihn so deutlich an der Wand hängen, als wäre es gestern gewesen. Der schmale Glaskasten gehörte nämlich zur Einrichtung des Versammlungsraums; er hatte seinen Platz ein Stockwerk über uns gehabt, direkt über der Tür. Ich versuchte mich an das letzte Mal zurückzuerinnern, an dem ich ihn gesehen hatte, aber bei meiner Aufnahme in den Kreis hatte der Kasten bestimmt noch an Ort und Stelle gehangen. Gleich hinter den aschblonden Häuptern der Fernvale-Brüder.

Ich griff erneut in die Box, doch es gab nichts weiter zu finden. Meine Nägel kratzen über den Boden des Kartons, während sich in mir die Gedanken überschlugen.

Warum war der Glaskasten abgenommen und in die Reliktsammlung gebracht worden? Hatte der Kreis bloß umdekoriert oder gab es einen schwerwiegenderen Grund? War dieser Fetzen Papier ein Hinweis darauf, was hier vor sich ging?

Ich ließ den Blick über den zusammengeschobenen Staub und die Phiolen wandern, in denen noch dunkle Blutreste klebten. Der Glaskasten musste auf irgendeine Weise mit den anderen Gegenständen verbunden sein, die ich in der Kiste gefunden hatte – außer man hatte ihn unter dem merkwürdigen Krimskrams verstecken wollen.

Die Worte das Tor und Titanias Magie auf dem alten Papierstück sollten sich auf den Eingang zum Gefängnis der Schwarzalben beziehen; wenn man annahm, dass sie vom Autor als unsere Väter und Mütter bezeichnet wurden. Diesen Teil zu entschlüsseln war keine Raketenwissenschaft, aber danach wurde es schwieriger. Mit Heimat konnte womöglich Alfheim gemeint sein – oder etwas Abstrakteres. War mit Heimat ein neuer Ort gemeint? Die Gemeinschaft? Ich hatte einige Ideen, doch die drei Siegel waren mir vollkommen fremd. Vielleicht eine Art Schloss, hinter dem der Übergang zu den Schwarzalben verborgen lag?

Ich musste meine feuchten Hände an den Jeans abwischen, bevor ich den Glaskasten zurück in den Karton legen konnte. Wie ließ sich erklären, dass man dieses Stück Papier nach der Ankunft der Lichtalben prompt in den Keller verbannt hatte?

Womöglich will der Kreis einen Konflikt vermeiden, überlegte ich. Immerhin konnten diese gerahmten Worte als Aufruf dazu gedeutet werden, die Schwarzalben aus ihrem Gefängnis zu befreien. Zweifelsohne würden die Lichtalben damit ein Problem haben.

Oder ...

Meine Laune sank in das zweite Untergeschoss, während ich eine andere Möglichkeit in Betracht zog. Versteckte man den Text womöglich, weil er den Lichtalben etwas über die Pläne des Kreises verraten würde?

Bisher hatte ich gedacht, dass der Kreis erst haltmachen würde, wenn das Überleben der Nachtalben in Gefahr war. Doch nun zog ich ernsthaft in Betracht, dass Zephael und die Grimlores sich kein bisschen um den Ausgang eines neuen Konflikts zwischen den Alben scherten. Sie waren womöglich bereit, das Leben aller in der Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen – nur, um nach Alfheim zurückzukehren.

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Die Sterne funkelten, als würden sie im Wettbewerb miteinander stehen. Nur der Mond konnte sie mühelos überstrahlen. Seine helle Sichel beleuchtete den Seelenbaum, der über dem Kiesmeer unter uns herrschte, und tauchte alles in ein fahles Licht, das lange Schatten warf.

„Du wirkst schon den ganzen Abend, als wärst du mit den Gedanken ganz woanders."

Ardens Stimme brach den Zauber und ich wandte meinen Blick vom Nachthimmel ab, um ihn zu mustern. Er wirkte besorgt. Seine dunkelbraunen Augenbrauen waren so weit zusammengezogen, dass sich eine Falte zwischen ihnen gebildet hatte.

Nach dem Abendessen hatten wir beschlossen, die neue Couch in meiner neuen Wohnung auszuprobieren – und obwohl sie weitaus härter war als erhofft, tat es nach einem Tag wie diesem gut, sich gegen Arden lehnen und entspannen zu können. Trotzdem musste er gemerkt haben, dass meine Gedanken hin und wieder zu dem Karton in der Reliktsammlung abglitten.

Die Gemeinschaft der Nachtalben - Band IIWhere stories live. Discover now