4.00. Neuer Tag, altes Leid

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Das ist die Nacht gewesen: Schlecht geschlafen, wirres Zeug geträumt, bin oft hochgeschreckt und musste mehrmals in die Mineralwasserflasche urinieren.

Mein Schädel brummt ein wenig. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als die Augen zu öffnen. Über mir hängt der Teppich aus Spinnweben mit unzähligen ausgesaugten Insektenkörpern. So fühle ich mich gerade auch, ausgesaugt und ausgelaugt. Draußen dämmert es schon. Die Armbanduhr zeigt 5:43:34 Uhr. Ich stülpe den Halsausschnitt des T-Shirts über die Nase, es riecht schlecht. Der Rest des Wassers in der Flasche ist lauwarm. Es hilft dennoch, den bleiernen Geschmack und das pelzige Gefühl im Mund hinunterzuspülen.

Jetzt sitze ich auf der Bettkante des wackeligen, dreckigen Doppelbettes. Die kleine Flasche Äthyl Alkohol steht neben dem Bett auf dem Boden. Ich spritze ein wenig Alkohol in die Hand und reibe damit Gesicht und Kopfhaut ein. Der Duft des Alkohols riecht angenehm und belebt die Sinne. Für meine Morgentoilette muss eine zweite leere Plastikflasche geopfert werden. Die Ratten sind nicht wieder aufgetaucht, vermisst habe ich sie nicht. Dieser unglaubliche Müllberg an der Wand gegenüber. Angewidert schüttel ich den Kopf und flüstere: „Mensch Thomas, wo bist du nur hineingeraten? Das ist ein echter Alptraum. Heute ist Dienstag, der vierte Tag in Haft. Es muss etwas geschehen. Tue endlich etwas! Denke nach, es muss eine Lösung geben. Du musst hier raus! Das kann doch nicht sein!“

Ich raufe mir die Haare und muss eingestehen: „Alle meine Hoffnungen liegen jetzt bei den Anwälten. Aber vielleicht kapiert auch die Polizei endlich, dass ich unschuldig bin!"

Das vergitterten Zellenfenster weckt meine Neugier. Auf Zehenspitzen stehend spähe ich hinaus, immer darauf bedacht wegen des Schmutzes so wenig wie möglich von der Zelle zu berühren. Dort wo gestern die "Flag-Ceremony" stattgefunden hat, stehen heute drei zertrümmerte Schrottwagen. Sicherlich die Ergebnisse aktueller Verkehrsunfälle.

Am Zellenvorplatz rührt sich nichts. Vögel zwitschern fröhlich und Hähne krähen aus unterschiedlichen Richtungen und Distanzen um die Wette. Hunde streiten, jaulen und bellen. Der Lärm der Straße und dem Platz vor dem Polizeigelände nimmt stetig zu. Ich höre Motorräder mit kaputten oder gar fehlenden Schalldämpfern röhren, Motoren von Fahrzeugen aufheulen und das ständige Hupen. Ältere Kinder und Jugendliche informieren laut und aggressiv, über die Routen der Jeepneys, das sind Minibusse, und die Motorelas, um Fahrgäste für ihr Fahrzeug anzulocken und zu gewinnen. Ab und an schwillt Musik heran, dröhnt kurz laut, um dann wieder abzuebben: ein Jeepney oder eine Motorela mit voll aufgedrehtem Soundsystem. Entfernt unterhalten sich angeregt Leute. Polizeischüler huschen vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. Ein ganz normaler Tag erwacht. Er erwacht ohne mich.

Nun starre ich durch die Zellentür auf die verwitterte Wand des Polizeigebäudes. Mittlerweile verkrampfen sich meine Hände beim Umklammern der Gitterstäbe. Der nette, gutgekleidete Herr, der gestern – oder war das schon vorgestern? – den Zellenvorplatz gereinigt hat, ist heute nicht zu sehen. Es ist schon 6:37:43 Uhr und es passiert weiterhin nichts am Zellenvorplatz, abgesehen von den stetig lauter werdenden Unterhaltungen aus den anderen Zellen.

Die Ungeduld ist, gemeinsam mit einem flauen Gefühl in der Magengrube, zurück. Wie sehr wünsche ich mir, der liebe Gott möge mein Gebet erhören, einen Officer kommen und mich abholen lassen. Für die Morgentoilette, eine Dusche und das gemeinsame Frühstück mit den netten Officers Sarang und Pangutana. Die eiligen Polizeischüler kann ich nicht fragen.

Das stelle ich mir komisch vor: „Hallo, Ihr da, Moment bitte, ich möchte mal aufs Klo, duschen und frühstücken. Sagt mal bitte den netten Officers Bescheid."

Nein, fragen kann ich die jungen Leute nicht. Ich kann nur warten, die Zeit totschlagen und der Dinge harren, die da kommen mögen.

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Gegen acht Uhr kommt ein mürrischer und übergewichtiger Wachmann in Uniform. Er lässt mich, zu meiner Freude, zuerst in die Toilette. Die Urinflaschen leere ich in der Toilette und spüle sie aus. Dann erledige ich die Toilette und dusche schnell. Gut, dass Franco und Kagawad gestern ein Handtuch, Seife, Duschgel und Zahnputzzeug gebracht haben. Solange die anderen Arrestierten die Toilette benutzen, darf ich mich auf dem Zellenvorplatz aufhalten. Das Tor des Maschendrahtzauns hat der Wachmann bereits beim Kommen sorgfältig verschlossen. So gut wie jeder Filipino grüßt mich mit dem „Hey Joe!“
Einige wollen wissen, woher ich komme und wieso ich hier bin. Auf Unterhaltungen im rudimentären Englisch, durchsetzt mit Wörtern der Visayan-Sprache, bin ich überhaupt nicht in Stimmung. Der fehlende Schlaf steckt mir in den Knochen und ich bin mürrisch, wie der Wachmann.

Den frage ich: „Entschuldigen Sie, Sir. Officer Sarang und Officer Pangutana sind nicht im Büro?“

„Nein“, die knappe Antwort, „zwei Tage dienstfrei.“

Es ist ärgerlich, dass ich keine Zigaretten in der Zelle habe. Damit könnte ich den Wachmann sicherlich gesprächiger stimmen.

„Ma’am Papillio und Ma’am Tolisan, kommen die später?“

Der Wachmann schaut zum Bad und weist den Duschenden an, schnell zum Ende zu kommen.

Er brummt mir zu: „Kommen etwa gegen 10 Uhr.“

Damit belasse ich es und gehe mit anderen Arrestierten im Kreis. Mein Kreislauf muss ein wenig in Schwung gebracht werden.

Keine fünf Minuten später steht plötzlich Michael vor dem Maschendrahtzaun, grinst breit und bietet dem Wachmann sofort eine Marlboro an. Der schließt dann auch sogleich das Tor auf und wieder zu. Michael hat Kaffee, Mineralwasser und Pandesal, diese weichen, noch warmen Brötchen, mitgebracht. Es schmeckt köstlich. Auch der Wachmann kaut und schmatzt zufrieden. Dankend lehne ich Michaels Angebot ab, denn zu einer starken Marlboro ist es wirklich noch zu früh. Ich bemerke erneut, dass Michael nur einfaches Englisch spricht. Aber gut, ich spreche ja auch nur wenige Worte Visayan.

Michael macht mir klar, dass Franco und der Pastor gestern Abend erst sehr spät in die Kirche zurückgekehrt sind und Franco heute Morgen noch geschlafen hat, als Michael aufgebrochen ist. Franco will mich später gemeinsam mit dem Anwalt De Baron besuchen. Die Mütter, Rica und Lang kochen heute für die Kinder. Michael macht eine denkwürdige Bemerkung über Francos Pastor: „Traue dem Pastor nicht, Tommy." Michael berichtet, auch der Kagawad sei sehr vorsichtig diesem Mann gegenüber. Den Pastor habe ich bisher noch nicht kennengelernt und möchte das Thema auch nicht vertiefen.

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Ein mir unbekannter Officer steht unvermittelt am Zaun und bittet mich in das Büro. Er drängt: „Sir, Sie haben einen Besucher.“

"Sir, wer ist denn der Besucher?"

"Ich kenne den Herren nicht, Mr. Heger."

Michael und der Wachmann reden kurz in ihrer Sprache Visayan. Ich verstehe kein Wort. Michael möchte unbedingt bleiben und dem gut beleibten Wachmann Gesellschaft leisten.

‚Rauchen schafft Gemeinschaft‘, freue ich mich für die Zwei. Der junge Polizist trommelt ungeduldig gegen den Zaun. Ich blicke noch einmal kurz ungläubig zu Michael. Der und der Wachmann grinsen vielsagend. Der junge Officer öffnet das Tor für mich und schon trotte ich ihm hinterher.

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REISE INS VERDERBEN by NOKBEW™Where stories live. Discover now