Kapitel 1

132 7 16
                                    

Melody

„ ... pour vous?"

Jäh schreckte ich aus meinen Gedanken und versuchte mich fieberhaft zu erinnern, was die Lehrerin gerade gefragt hatte. Leider erfolglos. „Pardon, je suis très desolé", murmelte ich. „Mais je n'ai pas écouté."

Ich saß in meinem Französischkurs in dem dritten Block und konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren. Noch immer musste ich an diesen Traum denken. Ich meine, natürlich war es nur ein Traum gewesen, doch ich träumte meist nicht so realistisch und konnte mich eigentlich fast nie an meine Träume erinnern. Aber die Bilder, die ich letzte Nacht im Schlaf gesehen hatten, ließen mich einfach nicht los.

Meine Lehrerin hatte mich im Laufe des Unterrichts bereits zweimal angesprochen, doch ich hatte nicht antworten können, weil ich in Gedanken nicht bei der Sache war. Eigentlich war ich nicht schlecht in Französisch, erbrachte konstant gute Leistungen, aber ich fühlte mich heute auch ziemlich unwohl.

Es war mein erster Schultag in der elften Klasse. Ich war erst vor vier Wochen hier her gezogen. Mit meiner Mom. Zu ihrem neuen Freund. Dieser hatte zwar einen Sohn, Kendal Laurentes, der auch mein Alter war und eigentlich auch in meine Klassenstufen gehen sollte, doch momentan war er bis zu den Herbstferien auf einem Schüleraustausch. USA. New York. Meine erste Woche, die ich hier in einer Vorstadt von London gewesen war, hatte ich ihn etwas kennenlernen können, die restlichen drei Wochen war ich schon allein gewesen. Kendal war ein dreiviertel Jahr älter, er hatte Anfang August Geburtstag, genau genommen, letzte Woche Dienstag, während ich am sechsten Juni hatte.

Trotz dass wir uns nicht einmal eine Woche kannten, war Kendal wirklich freundlich zu mir gewesen. Er hatte versucht, Gespräche mit mir anzufangen und war auf jeden meiner Sätze eingegangen. Nicht, dass ich viel sagen würde. Ich war diejenige, die ihn nicht ansehen konnte und versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, wo es nur ging. Weswegen er vermutlich auch dachte, ich wäre schüchtern. Kendal bemühte sich, ich hatte das Gefühl, dass er mich wirklich mochte.

Aber er war auch nicht hässlich.
Und da fing das ganze Problem an.

Das Pausenklingeln riss mich aus meinen Gedanken. Stumm stand ich auf, griff nach meiner Tasche und sammelte meine Französischsachen samt Federmappe ein. Ich war viel zu faul, alles in meine Tasche zu packen, außerdem musste ich sowieso noch zu meinem Schließfach, um meine ganzen Bücher, die wir heute bekommen hatten, wegbringen und das wichtigste Zeug in meinen Rucksack räumen. Denn ich hatte nicht vor, mit dieser Tasche nach Hause zu laufen, sie würde nur stören.

Im Zimmer wurde übliches Pausengemurmel laut, doch ich achtete nicht darauf. Wortlos griff ich nach meiner Tasche und drängt mich aus dem Zimmer, allerdings immer darauf bedacht, niemanden zu berühren oder anzusehen. Besonders keine Jungs.

Auf dem Gang brauchte ich kurz, bis ich mich orientiert hatte. Französisch. Das bedeutete dritter Stock, großer Flügel.

Ohne den Blick zu heben ging ich weiter in Richtung Treppen. Eigentlich wollte ich nur noch nach Hause. Mich in mein Bett kuscheln. Die Welt vergessen. Allerdings musste ich mir davor noch etwas zu essen machen. Ich hatte heute fast noch gar nichts hinunterbekommen, weil mir das hier einfach alles viel zu fremd war. Deshalb knurrte mir schon der Bauch und mir war schlecht. Jedoch konnte dies auch an anderen Sachen liegen.

Wieso konnte ich nicht einfach normal sein? Wie jedes andere Mädchen auch? Denn egal mit wievielen Adjektiven man mich auch beschreiben wollte, normal gehörte nicht im Geringsten dazu. Das hatte ich inzwischen gelernt ...

Doch bevor ich diesen Gedanken weiter ausführen konnte, rannte ich gegen eine Wand. Eine warme Wand. Warum hatte ich auch nicht darauf geachtet, wohin ich trat? Gott, Melody, Intelligenz ist's auch nicht deine Stärke.

Ich brauchte nur Bruchteile einer Sekunde, bis ich verstand, dass ich nicht wirklich gegen eine Wand gelaufen war, sondern gegen eine männliche Brust. Allerdings machte es in sofern keinen Unterschied, da ich mein Zeug durch den Zusammenstoß trotzdem einmal quer über den Gang verteilte und da ich anscheinend auch vergessen hatte, meine Federmappe zuzumachen, rollten meine ganzen Stifte ebenfalls über den halben Flur.

Großartig.

Jedoch war das nicht einmal mein größtes Problem. Die eigentlich Katastrophe war, dass der Typ mich an der Hüfte festhielt, da ich bei den Zusammenprall das Gleichgewicht verloren hatte und fast hingefallen wäre.

Ich wünschte, er hätte mich fallen gelassen. Selbst, wenn ich mir dabei den Arm gebrochen hätte, wäre das tausendmal besser gewesen.

Denn fast gleichzeitig mit seiner Berührungen fühlte es sich an, als hätte er mir mit voller Wucht in den Bauch geschlagen und sofort setzte die nur allzubekannte Panik ein und alles in mir zog sich zusammen. Ich wollte einfach nur noch hier weg. Mich verstecken. Dass er mich nicht sieht. Einfach weg.

,,Hey, vorsichtig, pass auf", murmelte er mit einer tiefen Stimme warm und sein Griff an meiner Hüfte verstärkte sich etwas. ,,Nicht, dass du hinfällst."

Ich begann leicht zu zittern, zwang mich, sein einfarbiges graues Shirt nicht mehr anzustarren und schloss kurz die Augen. Verdammt, er roch verdammt gut. So gut, dass mir die Knie weich wurden. Allerdings verstärkte sein Geruch auch meine Angst, ebenso wie seine weiche Stimme. Mit bebenden Fingern schob ich ihn von mir weg, obwohl ich ihn eigentlich nicht hatte anfassen wollten, alles in mir sträubte sich dagegen. Doch was sollte ich sonst tun?

Ohne ihn anzusehen begann ich hastig, meine Sachen aufzusammeln, möglichst, bevor die ganzen kleinen Unterstufler sie zertrampelten. Hastig raffte ich die losen Blätter zusammen und stopfte sie zurück in meinen Hefter. Warum zum Teufel hatte ich auch letzte Woche beim Vorbereiten aller Hefter die Zettel nur reingelegt, statt sie richtig zu heften?

,,Hey, warte, ich helfe dir."

Erschrocken sah ich auf. Obwohl ich dies hatte eigentlich vermeiden wollen, aber anscheinend waren meine Reflexe doch schneller.

Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass der Typ einfach weitergehen würde, schließlich war es ja schon sehr aufmerksam gewesen, dass er mich fest gehalten hatte. Doch er kniete sich jetzt neben mich und begann, mir zu helfen, meine ganzen Stifte wieder in meine Federmappe zu stecken.

Ich starrte ihn einen Moment an. Und doch begriff ich kaum, was ich da sah. Sein Gesicht war markellos, perfekt und ebenmäßig war seine Haut. Er hatte eine grade Nase und blassrosane Lippen, die untere etwas voller, die obere etwas schmaler und wunderschön geschwungen. Katzengrüne, dunkle Augen sahen mich an, von dichten, für seine langen, goldblonden Haare, die in zarten Wellen glänzend bis zu seiner Brust flossen, relativ dunklen Wimpern umrahmt.

Für eine Sekunde fragte ich mich, woher im Gottes Namen er diese Gene hatte.

,,Ist schon okay, musst du nicht", murmelte ich panisch und senkte den Blick, unwissend, ob mein Gesicht eher knallrot vor Scham oder kalkweiß vor Angst war. ,,Tut mir leid, dass ich in dich gelaufen bin, ich war in Gedanken woanders."

Irgendwie war ich schon ein bisschen stolz, dass ich diese zwei Sätze so halbwegs rausbekommen hatte, obwohl ich am liebsten weggerannt wäre. Das war ein enormer Fortschritt für mich. Normalerweise hätte ich ganz anders reagiert.

Doch anstatt schulterzuckend aufzustehen und einfach weiter zu gehen, blieb er neben mir hocken und half mir, meine ganzen Stifte aufzulesen.

Als wir fertig waren, reichte er mir meine Federmappe und erhob sich. Zwar hielt er mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen, doch ich hatte jetzt schon genug Angst und wollte ihn nicht auch noch noch berühren. Ohne auf seine ausgestreckte Hand zu achten, rappelte ich mich auf und hob meine Tasche auf. Ich murmelte nochmals eine rasche Entschuldigung und drängte mich an ihm vorbei. Während des ganzen Wegen runter zu meinem Schließfach in den Keller klopfte mein Herz wie verückt und ich hatte solche Panik dass ich am liebsten absichtlich die Treppe runtergefallen wäre, nur, um mit der Bewusstlosigkeit meinen Gedanken und der Angst zu entkommen. Doch ich beherrschte mich. Gedanken und Bieler wirbelten wild durch meine Kopf. Ich bekannt nicht Mal einen Fetzen davon zu fassen, um ihn zu beruhigen und wieder in die gedankliche Schublade zu stecken, wo ich ihn herhatte.

Erst als ich das Zahlenschloss an meinem Spint öffnete, merkte ich, dass ich mir erneut die Daumen blutig gekratzt hatte.

Mercy (vorerst leider pausiert)Where stories live. Discover now