Bailian White und seine Ansichten hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und ununterbrochen fragte sie sich, wie ein derart arroganter Schnösel mit seiner Erziehung solch liberale Ansichten haben konnte. Sofern alles tatsächlich der Wahrheit entsprach und nicht gespielt war, um seinem Onkel eins auszuwischen. Weshalb auch immer er das tun sollte.

Ihre wirren Gedanken bereiteten ihr Kopfschmerzen und sie seufzte leise, als sie sich die Schläfen rieb.

Marie schwieg einen Moment und schien angestrengt nachzudenken, aber schließlich entspannten sich ihre Gesichtszüge.

"Versuch Lord White einfach zu vergessen. Bald wird er des Landlebens überdrüssig werden und sich zurück in die Stadt begeben unter seinesgleichen und dann müssen wir uns nicht mehr mit ihm herumschlagen." Die beiden Freundinnen lächelten sich an. Marie hatte recht, versuchte Lucinda sich einzureden und wurde sogleich ein wenig ruhiger.

Wie lange konnte es jemand wie Lord White schon hier aushalten, ohne sich zu langweilen?

"Du hast recht! Soll ich uns ein wenig Tee machen?" Lucinda beschloss, das Thema abzuhaken und den Nachmittag mit ihrer Freundin zu genießen, doch in dem Moment klopfte es an der Tür und Lucinda öffnete.

Ihr Vater stand dort und Lucinda war sich augenblicklich sicher, dass etwas passiert war, trotzdem ihr Vater bemüht war, ein Lächeln zu zeigen.

"Guten Tag, Marie, es ist schön, dich zu sehen", grüßte er ihre Freundin, bevor er sich Lucinda zuwandte. "Lucinda, ich habe etwas mit dir zu besprechen, das nicht warten kann." Er sah Lucinda eindringlich an und ihr blieb das Herz beinahe stehen. Was war nur vorgefallen?

Ein unfassbarer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Er wollte ihr doch nicht etwa verbieten, sich weiter mit dem Fach der Medizin zu beschäftigen, nachdem sie ihre Familie gestern so blamiert hatte?

Lucindas Herz klopfte noch immer wie wild, als sie sich zu ihrer Freundin umwandte, die bereits aufgestanden war und sich ihr Schultertuch umgehängt hatte.

"Ich werde euch nun alleine lassen." Sie nickte Lucinda noch einmal aufmunternd zu, als sie an ihnen vorbeilief und ging.

"Lass uns doch in mein Arbeitszimmer gehen", schlug Lucindas Vater vor und sie folgte ihm, wobei sie sich fühlte wie ein Tier, das auf dem Weg zur Schlachtbank geführt wurde.

Ihre Hände waren vor Aufregung feucht und sie wischte sie an ihrem Rock ab, als sie sich ihrem Vater gegenübersetzte.

"Ich hatte soeben eine Unterredung mit Lord McLocklyn", begann er zu sprechen und Lucinda rutschte das Herz in den Unterrock.

"Vater, es tut mir leid, wenn ich euch gestern blamiert habe", versuchte Lucinda sich zu rechtfertigen, doch ihr Vater sah sie nur verwirrt an.

"Du denkst, ich will dich schelten, weil du klüger und couragierter bist als andere Mädchen es sind und deine Klugheit nicht versteckst? Nein, Lucinda, ganz im Gegenteil. Ich wünsche mir, dass du deinen Eifer und deine Neugier niemals verlierst und dass du einmal einen Mann an deiner Seite hast, der dir die Freiheit gibt, dein Wissen zu erweitern und es vielleicht sogar unterstützt und schätzt. Und das ist genau der Grund, warum ich bei Lord McLocklyn war." Er machte eine kurze Pause, schloss für einen Moment die Augen und sah Lucinda dann wieder an.

"Er möchte, dass du Lord Bailian White heiratest."

Lucinda stockte der Atem und mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihren Vater an.

"Das kann doch nicht sein Ernst sein? Warum denn ich? Du hast ihm hoffentlich gesagt, dass diese Verbindung niemals zustande kommen wird!"

"Nein, das habe ich nicht", entgegnete ihr Vater ruhig und das Blut, das soeben noch wie wild in Lucindas Körper getobt hatte, schien plötzlich gänzlich zu entweichen und ihr jegliche Energie zu entziehen. Wäre sie nicht gesessen, dann wäre sie nun vielleicht das erste Mal in ihrem Leben ohnmächtig geworden.

"Was?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie versuchte, das Unbegreifbare zu verstehen. Wieso hatte ihr Vater das getan? Liebte er sie denn etwa nicht? Wie konnte er ihr das nur antun?

"Ich weiß, dass du dich gerade völlig vor den Kopf gestoßen fühlst, aber bitte lass es mich erklären. Lord McLocklyn hat offen zu verstehen gegeben, dass Lord Whites Ruf gelitten hat, aufgrund einer Reihe von unglückseligen Ereignissen, aber dass er im Grunde ein guter Mensch ist. Und nach gestern Abend denke ich, dass du nie wieder die Gelegenheit haben wirst, einen Mann zu finden wie ihn. Er wird dir alle Freiheiten geben, die dein heller Geist benötigt und außerdem wird für dich gesorgt sein. Ich werde nicht immer für dich da sein können, irgendwann wird es auch Zeit für mich, diese Welt zu verlassen und dann will ich wissen, dass du gut versorgt bist", erklärte ihr Vater zärtlich und Lucinda spürte, wie die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, still ihre Wangen hinabflossen. Tapfer unterdrückte sie ein Schluchzen.

"Und irgendwann, wenn ihr euch besser kennengelernt habt, wenn ihr gelernt habt, euch zu respektieren, werdet ihr vielleicht sogar Zuneigung füreinander empfinden. Glaube mir, ich wünsche dir nichts mehr als das", fügte er hinzu und nun konnte Lucinda dem Tränenstrom keinen Einhalt mehr gebieten.

Ihr Vater kam zu ihr und legte die Arme fest um sie.

"Ich habe Lord McLocklyn das Versprechen abgenommen, dass es dir an nichts fehlen wird und dass dich Lord White gut behandeln wird." Er nahm Lucindas tränennasses Gesicht in seine Hände und lächelte ihr aufmunternd zu. "Unter anderen Umständen hätte ich mein Einverständnis nie gegeben. Aber ich weiß, dass du in einer Ehe, in der du keinerlei Freiheiten hättest, niemals glücklich werden würdest und davor möchte ich dich bewahren. Lucinda, mein Herz, das ist deine einzige Chance, auf Glück in diesem Leben."

Lucinda lehnte ihren Kopf auf die Schulter ihres Vaters und ließ sich von ihm trösten. Nicht oft gestattete sie sich zu weinen und nun schienen die Tränen endlos zu sein, während tausend Gedanken ihren Kopf beherrschten und keine Klarheit zu schaffen war.

Lucinda wusste, dass sie nun keinen Einfluss mehr auf ihr Schicksal hatte. Sie verstand, dass ihr Vater nur versuchte, das Richtige zu tun, damit es ihr gut ging.

Aber gerade eben wusste sie noch nicht, ob er sie damit gerettet oder ihr Todesurteil gesprochen hatte. 

Überraschungskapitel zum Welttag des Buches! :D

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Überraschungskapitel zum Welttag des Buches! :D

Was sagt ihr zu der Entwicklung? Wird das für Lucinda die Chance ihres Lebens oder das Ende ihrer Freiheit bedeuten?

Eure Eliza Hart <3

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now