Der Brief

52 6 0
                                    

Chris

Meine Knie zitterten und ich musste mich an der braun gestrichenen Wand in unserem Flur abstützen, um nicht hinzufallen. Wir waren vor zwei Monaten, nach dem Tod meines Vaters, hier eingezogen. Trotzdem roch es immer noch im ganzen Haus nach frischer Farbe. Ich hasste es!
Dieser Geruch erinnerte mich immer wieder daran, dass sich alles verändert hatte.

Mein Vater hatte im Industrie-District gearbeitet und war bei einem Unfall gestorben. Was genau passiert war, wusste ich nicht, man hatte es uns nie erzählt. Doch FH-Group hatte uns als Entschädigung eines der Häuser in einem der wohlhabenden Viertel von UNTEN überlassen. Es war ein altes, matschbraunes Haus am Ende einer langen Straße.
Es war nicht sehr groß, doch für drei Personen reichte es aus, ich hatte sogar mein eigenes Zimmer.

Ein Grund weshalb ich dieses Haus nicht möchte, war, dass die Super-Lamp über unserem Garten kaputt war, weshalb er ständig im Dunkeln lag. Die Super-Lamp ist eine Erfindung von FH-Group, welche das Sonnenlicht imitieren soll.
Ich denke, dies ist auch der Grund, weshalb uns FH-Group das Haus überlassen hatte.

Ich musste würgen.
Bereits seit heute Morgen war mir Übel und dies war nicht das erste mal, dass es mich zur Toilette drängte.

Gestern wurden die ersten Briefe an die Erwählten, welche nach OBEN gehen durften, geschickt und da genau in diesem Moment einer in unserer Küche lag, musste ich wohl eine von ihnen sein.

Langsam schlurfte ich in die Küche und nahm den Brief, welcher heute Morgen kam, von der weißen Theke.
Schon mein ganzes Leben hatte ich auf diesen einen Moment gewartet, doch nun als er endlich gekommen war, packte mich die kalte Angst. Mit stockenden Atem, sah ich auf den Brief in meinen Händen.

Was, wenn in dem Brief nicht das stand, was ich mir erhoffte und was wenn doch? Mit zittrigen Fingern drehte ich den Brief.
Das Papier fühlte sich rau an. Er sah genauso aus, wie ich es erwartet hatte. Teures Papier und kunstvolle Schrift. 

Christina Jones prankte in dicken, schwarzen Buchstaben auf dem Papier. 

„Nun mach ihn schon auf.“
Ich erschrak bei den Worten meiner Schwester und ließ den Brief fallen. „Man Rosie, du sollst dich nicht immer von hinten anschleichen!“
„Mach ich nicht, du bist nur immer in deinen Gedanken versunken“, gab sie zurück und hob den Brief auf.

Mit dem Brief in der Hand ging sie an das andere Ende des Raumes und setzte sich auf einen der Stühle, die an unserem großen hölzernen Esstisch standen.

„Also, was denkst du steht drin? Ich hoffe ja immer noch, dass du nach OBEN gehst, dann habe ich endlich ein großes Zimmer.“ Ich nahm ihr den Brief aus der Hand und setzte mich auf einen der Stühle ihr gegenüber.
„Ich weiß nicht, mein ganzes Leben träume ich schon von OBEN, doch nun möchte ich den Brief gar nicht erst aufmachen.“

„Du hast Angst uns zu verlassen, oder? Du denkst, dass Mom es ohne deine Hilfe nicht schafft“, sagte sie und legte ihren Kopf leicht zur Seite. Dies machte sie immer, wenn sie sich unwohl fühlte. Ich seufzte und senkte meinen Kopf auf die Tischplatte.

„Man Chris, denk doch einmal an dich selbst. Du sagst mir so oft, dass du endlich nach OBEN willst, das du mehr sehen möchtest als UNTEN. Also warum zögerst du jetzt? Mach diesen verdammten Brief auf und schau, ob dein Traum war wird.“
Ich sah sie stirnrunzelnd an und begann dann zögerlich den Brief zu öffnen.

Sie hatte recht, vielleicht wurde ich ja gar nicht erwählt und musste mich gar nicht zwischen OBEN und UNTEN entscheiden. Ich atmete noch einmal Tief durch und riss dann das letzte Stück Briefumschlag auf.

Im Umschlag befand sich nichts, bis auf ein kleines, weißes Kärtchen. Zur Sicherheit drehte ich ihn noch einmal um und schüttelte ihn … nichts.
Der Briefumschlag war leer.
Ich legte das Kärtchen vor mich hin und warf den Umschlag in den Müll.

„Was ist?“, fragte meine Schwester, die anscheinend meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
„Wieso guckst du so komisch?“
Sie nahm sich das Kärtchen und betrachtete es. Nach einer Weile gab sie es mir zurück.

„Versteh ich nicht!
Also “Erwählt“ ist ja eindeutig, aber “4“? Bist du die vierte Erwählte oder so?“
Ich drehte das Kärtchen in meinen Händen. 
"Erwählt – 4" stand in roter Schrift darauf. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass ich tatsächlich erwählt wurde. Es war eine große Ehre eine der wenigen Gücklichen zu sein.

Aller vier Jahre wurden nur 25 Personen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren ausgewählt, um sich zwischen OBEN und UNTEN zu entscheiden. Zwischen einem Leben unter der Erde, ohne echtes Sonnenlicht und in Armut trotz unmenschlich harter Arbeit. Und einem Leben in Reichtum im Freien, so wie es früher war. 
Schon immer hatte ich davon geträumt, die echten Sterne zu sehen und den Wind, was auch immer das sein mochte, zu spüren.
Allein wenn ich daran dachte, bekam ich eine Gänsehaut. Doch für mich kam das Leben OBEN nie wirklich infrage.

Meine Mutter leidete unter LM, einer Krankheit die viele Menschen UNTEN betraf.
Ihre Knochen waren schwach und sie konnte durch den Lichtmangel kaum noch arbeiten. Da mein Vater vor kurzem gestorben war, mussten meine Schwester und ich den Großteil der Arbeit übernehmen und ich könnte es einfach nicht über mein Herz bringen die beiden allein zu lassen.

Was wenn ihnen irgendetwas passierte? Ich würde mich mein Leben lang schuldig fühlen.
Außerdem könnte ich meine beste Freundin Hope niemals allein UNTEN lassen. Oder hatte ich einfach nur Angst OBEN allein zu sein?

Ich vergrub meinen Kopf in den Händen und gab einen gequälten Laut von mir. Wie konnte ich nur so eine schlechte Tochter, Schwester und Freundin sein? Trotz all den Gründen UNTEN zu bleiben, konnte ich den Drang nach OBEN zu gehen nicht vollständig unterdrücken.

____________________________________

Willkommen zu unserer neuen und damit auch ersten Story!!!

Wir würden uns sehr über Feedback, Kommentare und Likes freuen.

~Nuritimee

The Golden DoorHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin