Folge 22.1

10 2 0
                                    

Aiden schnaubt abfällig. Er tritt einen Schritt vor in das spärliche Licht einer flackernden Deckenleuchte und erst jetzt erkenne ich die Waffe in seiner Hand. Sie ist auf Coleman gerichtet, der noch immer neben mir steht und keine Anstalten macht mich als Schutzschild zu verwenden. Aiden verlagert sein Gewicht von einem Bein auf das andere, während er uns betrachtet. Dann streift er die Kapuze vom Kopf und lässt seinen Blick über mich gleiten. Mir ist gleichzeitig heiß und kalt. Seine Stirn legt sich in Falten. Ich kann den Schmerz in seinen Augen nicht sehen, aber ich weiß, dass er da ist. Als er sieht, dass mir nichts fehlt, wendet er sich an Coleman.

«Zwei Minuten», willigt er ein und der Sekretär nickt.

«Im Westflügel von Deck 3 gibt es einen Zugang zu einem Unterseehafen. Dort lagern fünf U-Boote. Das kleinste hat genügend Treibstoff im Tank, um euch bis zu einem Unterseelabor zu bringen. Wir haben es vor fünf Tagen auf dem Radar entdeckt. Etwa hundert Seemeilen von hier. Im U-Boot liegt eine Karte.»

Aiden kneift die Augen zusammen. Sein Blick zuckt erneut zu mir und der Hand, die mich festhält.

«Wieso sollte ich Ihnen glauben?» Seine Stimme klingt zornig.

«Weil Susan falsch lag, was mich betrifft. Ich habe nie versucht, dich zu töten, Jackson schon. Ich wollte dich finden, um dir die Hintergründe der Manipulation zu erklären. Du bist ein Gewinner, Nickolas.» Aiden zuckt bei seinem Namen zusammen. «Das Concilium kann es sich nicht leisten, echte Gewinner zu verlieren. Dein Leben war in erheblicher Gefahr. Deshalb wollte ich dich unter meinen persönlichen Schutz stellen.»

«Das kann ja jeder behaupten.» Aiden richtet seine Waffe erneut aus, doch wieder schweift sein Blick zu mir. Ich versuche mich an einem Lächeln, um ihm mitzuteilen, das mir nichts weiter fehlt und Coleman mir nicht wehtut. Aber die Anspannung verhindert, dass ich die Kontrolle über meine Mundwinkel behalte.

Coleman seufzt.

«Hast du dich jemals gefragt, warum Henrietta die Einzige war, die für ihre letzte Challenge auf Deck 1 geschickt wurde? Dir war doch vom ersten Moment an klar, dass kein Sekretär die Verantwortung übernommen hätte, ein so wehrloses Mädchen ins untere Deck zu schicken», erklärt er genervt.

Aidens Hände ballen sich zur Faust. Meine auch. Ich bin kein wehrloses Mädchen! Aber selbst wenn Aiden diese Gedanken nicht hatte, sind es genau die Fragen, die ich mir gestellt habe. Ich hätte meine Challenge wie alle anderen auch auf Deck 3 haben sollen.

«Sie haben das eingefädelt!», platze ich heraus. «Sie haben meine Challenge manipuliert, weil Sie wussten, dass Aiden mich kontaktieren wollte. Ich war der Köder!» Mit jedem Wort wird meine Stimme schriller. Gott verdammt, wieso ist mir das nicht eher klargeworden?

Coleman lächelt zufrieden. Von Aiden ist nur ein leises Knurren zu hören.

«Ich muss gestehen, dass ich meine Pläne vor Jackson nicht geheimhalten konnte. Die Rauchbomben gehen auf sein Konto.»

«Die Rauchbomben und der Absturz der Plattform und Helion und was noch?», fragt Aiden mit noch immer erhobener Waffe.

«Der Sekretär, der euch auf der Flucht verfolgt hat und die Spione in der Cafeteria von Deck 1 und deinen Freund, Joe oder so, hat er auch bestochen.»

«Ich wusste es», schnaubt Aiden und wirft fast den Kopf in den Nacken, bis er sich besinnt, dass er seinen Feind nicht aus den Augen lassen sollte.

«Basketballhose ist ein Spion?», quietsche ich. «Und du wusstest das?»

Aidens Mundwinkel entgleiten zu einem winzigen Schmunzeln, weil ihn meine Spitznamenwahl wohl überrascht, doch sie fangen sich schnell wieder.

«Ich habe es vermutet. Deshalb bin ich euch gefolgt. Er würde niemals jemanden auf einen Kaffee einladen», erklärt er und zuckt mit einer Schulter.

Langsam beginne ich mich zu fragen, wie oft er mir eigentlich schon gefolgt ist. Damals. Heute. Früher? In wie vielen Momenten, in denen ich einfach vom Schuldeck nach Hause geschlendert bin, war er wohl direkt hinter mir? Wie oft hat er mich vom Fenster aus beobachtet, wenn er gearbeitet hat?

«Also hat Joe uns in eine Falle gelockt. Er hat uns in die Arme der Sekretäre getrieben.» Wunderbar. Ich möchte mein Gesicht in meinen Händen versenken, doch die Fesseln schneiden sich mit jeder Bewegung nur noch tiefer in meine Handgelenke. Meine Menschenkenntnis kann ich wohl über Bord werfen.

«Aus diesem Grund habe ich auf Jacksons Rachefeldzug durch Deck 1, Conrad eingeschleust.»

«Und Conrad war nie dazu da uns auszuliefern», spinne ich den Gedanken weiter. Wieso hat er das nicht gesagt? Wieso hat er so getan, als ...

Er hat nicht so getan, wird mir klar. All die Wut und alles, was Conrad gesagt hat, war echt. Vielleicht war es zuerst nur eine Strategie, um mich festzusetzen, aber am Ende war es echt. Ich beiße mir auf die Lippe, bis ein tauber Schmerz entsteht. Es war nicht Conrad allein, der alles kaputtgemacht hat. Ich habe mich auf Aiden eingelassen und mit absoluter Sicherheit wusste Conrad, dass das zwischen mir und meinem neuen Verbündeten nicht einfach nur ein Komplizending bleiben würde.

«Es war abgesprochen, dass Conrad euch an mich übergibt. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Vor allem weil ich nicht einschätzen konnte, was er mit dieser Information anfangen würde.» Coleman deutet mit einem Kopfnicken auf Aiden, dessen Muskeln sich sofort anspannen.

«Und mein Vater weiß von all dem hier», denke ich noch weiter. «Er hat Sie gerufen, als wir bei ihm aufgetaucht sind, damit wir endlich die Wahrheit erfahren und in Sicherheit sind.»

Coleman nickt.

«Stattdessen seid ihr direkt in Jacksons Männer gerannt.»

Es hätte alles so einfach sein können. Wir hätten sicher sein können. Woher kamen die ganzen Gespenster, das Misstrauen? Meine Schultern sacken unter der Last aus Schuld nach unten. Ich habe meinen eigenen Freunden misstraut. Meiner eigenen Familie, verdammt!

Ich lasse Revue passieren, was nach meiner Festnahme passiert ist. Wenn Conrad, mein Vater und vielleicht auch Hailey für Coleman arbeiten, war das Verhör auf irgendeine Weise dazu gedacht mich in Sicherheit zu bringen. Aber dann wurden sie durch Aidens vermeintliche Festnahme abgelenkt und Perry konnte mich befreien. Im Auftrag ihres Bruders, aber auch um ihn für Jackson zu finden.

Coleman zieht ein Taschenmesser hervor. Mir bricht sofort der Schweiß aus und ich versuche mich aus seinem Griff zu winden. Aber er tritt gelassen hinter mich und durchtrennt die Kabelbinder. Ich bin so verwirrt, dass ich einfach stehen bleibe. Bis Coleman mit einer auslandenden Handbewegung auf Aiden zeigt.

Ich behalte ihn im Blick, während ich humpelnd die Seiten wechsle. Aiden kommt mir entgegen, die Waffe nicht mehr ganz so bestimmt auf Coleman gerichtet. Ich greife nach seiner Hand, sobald ich kann. Er findet meinen Blick und zieht mich an seine Seite. Der Geruch von Staub und Regen mischt sich mit dem Schweiß auf seiner Haut.

«Es gibt nur noch einen Weg für euch, die Kolonie lebend zu verlassen», sagt Coleman. «Die U-Boote sind euer letzter Ausweg.»

«Was ist mit der Evakuierung? Und den Aufständen?», fragt Aiden.

«Ich kümmere mich darum.» Damit dreht Coleman sich um und geht davon.

Wir schauen ihm nach. Er ist eine seltsame Erscheinung in diesem Zwielicht. Nicht schwarz, nicht weiß. Vielleicht hat er gewonnen, aber er hat auch viel verloren. So wie jeder von uns. An der Ecke wendet er sich noch einmal um und fixiert mich mit seinen grauen Augen. Sofort hebt Aiden die Waffe.

«Deine Mutter war ein wunderbarer Mensch, Henrietta. Du bist ihr sehr ähnlich.» Ein Schatten huscht über sein Gesicht und mir wird klar, was meine Mutter für ihn bedeutet haben muss. Doch Coleman ist fort, bevor ich etwas sagen kann.

Ich starre noch eine Weile auf die Stelle, an der Coleman verschwunden ist, bevor ich meinen Blick auf Aiden lenke.

«Ich dachte, ich hätte dich verloren», haucht er. Sein Atem zittert genau wie seine Hand in meiner. Seine Augen werden glasig. Ich lege meine Hand auf seine, die noch immer die Waffe umklammert hält. Dann lässt er sie einfach zu Boden fallen. Erst da wird mir klar, dass sie nicht geladen war. Er sieht nicht weg, als die Tränen über seine Wangen laufen und ich mache mir nicht die Mühe sie wegzuwischen. Stattdessen ziehe ich ihn an mich und lasse ihn sein Gesicht in meinen Haaren vergraben. Sein Schluchzen erfasst uns beide.

«Nie wieder», keuche ich. «Wir machen das nie wieder!»

Only Water - Kenne deinen FeindWhere stories live. Discover now