Folge 10.1

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Ich zwinge mich, ihn anzusehen. Seine Stirn ist sorgenvoll in Falten gelegt und in seinen Augen flimmern Zweifel.

«Ich habe nicht angenommen, dass es dich betrifft», gesteht er leise. «Deine Mom hat sich das doch ausgedacht und, wie ich das sehe, hätte sie sich niemals selbst betrogen.»

Nein, das hätte sie niemals getan. Wenn sie um jeden Preis zu den Vilex hätte gehören wollen, hätte sie ein System entwickelt, dass ihr diesen Vorzug garantiert und keins, dass sie bewusst hintergehen muss.

«Das sollte deine Pläne nicht ändern.» Ich verschlucke mich fast an den Worten.

Aiden schüttelt den Kopf, als will er verhindern, dass die Worte seine Ohren erreichen. Sein Blick gleitet in den Ozean, während er die Hände in den Taschen seiner Jacke vergräbt.

«Welchen Unterschied macht es schon?», frage ich und lehne mich mit dem Rücken gegen die Scheibe. Sie ist angenehm kühl.

«Ich bringe dich in Gefahr.» Seine Stimme klingt dumpf, wenn er gegen das Glas spricht.

«Das ist jetzt nicht unbedingt neu.»

«Aber ich bringe deine Familie in Gefahr, deine Freunde. Was glaubst du, was sie mit euch machen? All die Leute, denen das System alles genommen hat?»

Ich will sagen, dass ich davor keine Angst habe, dass es immer einen Weg gibt, genau wie meine Mom es gesagt hat. Aber dann sehe ich wütende Menschen, Schuhe und Küchenmesser und die Worte verschwinden aus meinem Kopf. Ich habe Angst. Aber das soll kein Grund sein, nicht das Richtige zu tun.

«Die Leute haben ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie betrogen wurden. Wer weiß, für wie viele Gewinner kein Platz mehr war, weil sich Leute wie ich in das System eingekauft haben? Sie müssen es wissen.»

Aiden betrachtet mich von der Seite. Ich rühre mich nicht. Auch nicht, als er sich mir zuwendet, eine Hand an der Scheibe abstützt und mich von Kopf bis Fuß ausgiebig mustert. Sein Blick brennt auf mir und ich fühle, wie die Hitze in meine Wangen steigt.

«Du bist deiner Mutter ziemlich ähnlich, was?», sagt er mit einem Lächeln im Mundwinkel.

Ich zucke die Schultern und senke den Blick auf meine Hände, um nicht länger sein Lächeln ansehen zu müssen. Es hat sich schon viel zu tief in mein Herz gestohlen.

«Meine Mutter und ich sind grundverschieden», entgegne ich und muss doch wieder hochsehen.

«Beweis es!», fordert Aiden. Er stemmt abwartend die freie Hand in die Seite und beugt sich zu mir, als wäre er ein schwerhöriger, alter Mann.

«Ich habe mal in einer Klausur abgeschrieben. Das hätte Mom nie getan», sage ich trocken.

«Ich bin schockiert.» Er fasst sich theatralisch an die Brust. «Das ist aber dein schlimmstes Vergehen bisher oder?»

«Nein, das schlimmste war, dass ich einer Mitschülerin die Idee für das Motto des Abschlussballs der zehnten Klasse geklaut habe und nicht mal ein schlechtes Gewissen hatte.» Tatsächlich muss auch ich lächeln, wenn ich höre, wie belanglos das alles klingt.

«Ich erkenne dich ja gar nicht wieder!» Aidens Grinsen wird noch breiter und sein Blick so warm, dass ich einen Moment nach draußen sehen muss.

Bei unserer ersten Begegnung auf dem Schuldeck habe ich kaum gewagt ihn anzusehen. Conrad gehört nicht zu der eifersüchtigen Sorte, aber andere Jungs anzustarren, wenn er dabei ist, schien mir immer unangebracht. Und Nick ist definitv jemand, den man anstarrt. Weil er anders ist. Unerreichbar, endlos und tief. Ein Ozean. Also bin ich schnurstracks an ihm vorübergegangen. Vielleicht hat er deshalb den Anschluss verpasst. Weil ich nicht mit dem Neuen sprechen wollte, der zwei Tage nach Schulbeginn wie aus dem Nichts auftauchte.

«Was war denn deine schlimmste Jugendsünde?», stichle ich zurück.

«Ich habe den Exfreund meiner Schwester mit einem Messer bedroht», erklärt Aiden.

«Ja, klar», winke ich ab, aber er erwidert mein Lächeln nicht.

«Er hat sie geschlagen», sagt er stattdessen und seine Stirn legt sich in Falten, als würde er darüber nachdenken, wie das als Begründung in meinen Ohren klingen muss.

«Das tut mir leid.» Es muss ein schönes Gefühl sein, jemanden wie ihn an seiner Seite zu wissen. Jemanden, der sich immer einsetzt, der alles tun würde, um seine Familie zu schützen. Jemanden, auf den man sich zu hundert Prozent verlassen kann.

«Deine Mom hat mir sehr geholfen, das alles hinter mir zu lassen. Manchmal denke ich, dass sie der einzige Mensch auf Erden war, der aus der Katastrophe eine Chance machen konnte.»

«Ja, das denke ich auch.» Schade, dass sie es nicht geschafft hat. «Ich habe nicht gewusst, dass du sie so gut kanntest.»

«Ich hatte ein paar Gespräche mit ihr, weil wir zu spät über das Vilex-System informiert wurden. Sie wollte uns den Einstieg erleichtern.»

«Ihr wurdet zu spät informiert?»

«Ja. Sie haben uns wohl übersehen. Jedenfalls stand plötzlich deine Mutter vor der Tür und hat uns diesen Wisch in die Hand gedrückt. Als sie gesehen hat, dass wir Gewinner sind, hat sie uns mitgenommen.»

Ich starre ihn an. Wenn Mom seine Zahlen gesehen hat, dann wusste sie, dass es andere sind als unsere. Sie hat es gewusst?

Only Water - Kenne deinen FeindWhere stories live. Discover now