Die Wolke kommt zu Besuch

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Es klingelt.
Die alte Dame steht in ihrer Küche und wirft einen Blick auf die Digitalziffern der Wanduhr, die sie aus nostalgischen Gründen aufgehängt hat. Es ist 17.30 Uhr.
Sie stellt den Wasserkocher ab und richtet ihr Augenmerk auf die Tür des Hängeschrankes vor ihr.
Drei Sekunden später erscheint ein Bild, das einen Ausschnitt vor ihrer Wohnungstür zeigt.
Da es geklingelt hat, sieht sie nicht nur den Hausflur des Mehrfamilienhauses und ihre Fußmatte, sondern das ungeduldige Gesicht ihrer Enkelin.
„Mach schon auf, Oma. Ich bin's."
Die Dame nickt der Schranktür zu, als könnte diese die Kopfbewegung verstehen und in gewisser Weise stimmt das auch. Sie ergänzt dennoch: „Öffne bitte, Liri." Das Bild verschwindet und nur die eierschalenfarbene, glänzende Oberfläche bleibt zurück.
Kurz darauf hört sie die Tür im Flur ins Schloss fallen und polternde Schritte.
„Bitte zieh die Schuhe aus!", ruft sie und greift nach dem Sieb mit den Teeblättern, um es ein paar Mal auf und ab zu bewegen.
Auf die Forderung hin rumpelt es zweimal kurz hintereinander, als die schweren  schwarzen Stiefel mit den Stahlkappen auf den Boden geworfen werden.
Die Ältere lächelt, denn als sie siebzehn war, hat sie sich mit ebensolchen Stiefeln herumgeplagt, sie ebenso gleichgültig behandelt und ihre Eltern damit zuverlässig aufgeregt.
Eine junge Frau erscheint im Türrahmen der Küche und lehnt sich lässig gegen das helle Holz. Sie trägt dicke Socken, enge schwarze Hosen und eine ebensolche Hoodie-Jacke mit einer überdimensionierten Kapuze. Ihre Hände hält sie in den Taschen vergraben.
„Hi, Oma Mel", begrüßt sie die Ältere, als hätte die mit ihrem Erscheinen gerechnet.
„Guten Abend, meine liebe Claudia. Möchtest du Tee? Earl Grey. Oder lieber ein Wasser?"
„Ne, lass mal. Aber du sollst mich Claud nennen, weißt du doch! Wie Wolke."
Die Dame bedenkt ihre Enkelin mit einem kritischen Blick.
„Wie Wolke", wiederholt sie. „Na, dann schwebe schon mal ins Wohnzimmer, du Wolke. Ich bin sofort da."
Die junge Frau verdreht die Augen, stößt sich vom Türrahmen ab und verschwindet durch den Flur in Richtung der Stube.
Oma Mel gießt den fertigen Tee in eine bereitgestellte Tasse und lässt das Sieb in der Kanne hängen. Sie schätzt es, wenn der Earl Grey dadurch dunkel wie alter Cognac wird und bitter schmeckt.
Dann folgt sie ihrer Enkelin in das zurückhaltend, aber teuer eingerichtete Wohnzimmer.

Dort lümmelt die junge Frau in einem hellen Ohrenbackensessel und hat ein Bein über eine der Armlehnen gehängt.
Die ältere Dame stellt ihre Tasse auf einem niedrigen Couchtisch auf einer Zeitschrift ab und setzt sich.
Ihre beige Hose mit der scharfen Bügelfalte hebt sich kaum von dem robusten Bezug des Sofas ab.
Dazu trägt sie einen braunen Rollkragenpullover, den sie für die Tage reserviert hat, an denen ihr bereits am Morgen auffällt, wie viele Falten ihr Hals mittlerweile wirft und sie sich außerstande sieht, seinen Anblick zu ertragen.
Ihr graues, bald weißes Haar, hat sie zu einem nachlässigen Knoten im Nacken gelegt.
Sie sieht die junge Frau abwartend an. Als diese sich nicht entschließen kann, zu beginnen, sagt sie: „Ich freue mich über deinen Besuch, aber solltest du nicht zu Hause sein oder irgendwo mit deinen Kollegen abhängen; oder wie immer ihr das heutzutage so nennt? Was treibt dich zu deiner alten Großmutter?"
„Ach, Oma." Claudia zieht das „a" in die Länge. „Du bist doch nicht alt. Außerdem hänge ich gern bei dir rum."
Die Ältere greift bedächtig zu ihrer Tasse und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Der Tee ist zu heiß und sie stellt das Getränk zurück auf die Zeitschrift, auf der sich bereits ein feuchter Ring gebildet hat.
„Ist das so? Ich hab's auch gern, wenn du bei mir rumhängst." Die Frauen lächeln sich an.
„Magst du eine Partie Rummikub? Oder lieber ein Alibi?" Oma Mel zwinkert verschwörerisch. „Du kannst beides haben, wenn du möchtest."

Claudia stößt geräuschvoll die Luft aus und zieht ihr Bein von der Lehne, um sich aufrecht hinzusetzen.
„Ich weiß nicht. Eine Freundin von mir hat ein - na ja - ein Problem irgendwie. Nicht mal ein richtiges Problem, mehr so ..."
„Mehr so: da ist dieser Typ. Ja?", nimmt die Ältere den Faden auf.
„Genau." Die Enkelin zuckt mit den Schultern.
„Na, dann erzähl mal. Mit Typen kenne ich mich aus." Ein Lächeln begleitet die Forderung.
„Also da ist dieser Typ - Jo. Der ist irgendwie – also er möchte, dass sie fest zusammen sind, irgendwie, aber sie weiß nicht recht. Weil das ist ja schon ein heftiger Schritt."
Oma Mel hat begonnen, ihre linke Wange ein Stück einzusaugen und mit der Zunge abzutasten. Das ist eine alte Gewohnheit, die ihr selbst kaum auffällt, und die sie seit ihrer Jugend pflegt, wenn sie über Etwas intensiv nachdenkt.
„Joe", wiederholt sie. „Wie Joe Cocker?"
„Wer ist Joe Cocker?", fragt Claudia mit einem Gesichtsausdruck, den junge Menschen für ältere reserviert haben, die Unsinn aus einer Zeit erzählen, die ungefähr genauso vergangen ist, wie die Dinosaurier oder tragbare Telefone.

Mela und Jo - Bad Boy VampirWhere stories live. Discover now