Kapitel 21 - Wahrheit und Irrtum

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Unzählige Fragen stürzten auf Bonnie ein. Weshalb würde ein ruhiges Mädchen wie Agnes etwas dermaßen Riskantes tun? War sie sich nicht über die Konsequenzen bewusst? Und am wichtigsten, wo war sie untergekommen, wenn nicht bei der Verwandschaft der Staffords? Eigene Familie besaß Ms. Hammond längst nicht mehr.

"Hat sie womöglich Freunde in London, bei denen sie untergekommen sein könnte?"

Mr. Northwood schüttelte langsam den Kopf. "Man hat sich überall nach ihr erkundigt. Wenn kein Wunder geschieht, dann müssen wir davon ausgehen, dass sie mit einem Mann gegangen ist."

"Ms. Hammond?", rief Bonnie aus, die diese Vermutung nicht teilen konnte - oder mochte. Sie hatte das Mündel der Staffords als gesammelte, vernünftige Person kennengelernt. Mit einem fremden Mann davonzulaufen sah ihr überhaupt nicht ähnlich. "Niemals."

"Es gab Berichte, man habe sie in der Gegenwart eines jungen Mannes gesehen. Die Großtante soll die Verbindung bis vor kurzem sogar unterstützt haben", gab er ihr zu bedenken und Bonnie starrte fassunglos zurück.

Es wollte ihr nicht glaubhaft erscheinen, egal wie sehr sie es drehte und wendete. "Es muss ein Irrtum vorliegen."

Ihr Gastgeber lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. "Das hoffe ich wirklich sehr. Marissa und Henry haben bereits davon gehört und sind außer sich vor Sorge, genau wie ihre Eltern. Agnes war den Staffords immer eine vorbildliche Tochter; sie wollen sie unbedingt zurückbringen, bevor es sich herumspricht."

Bonnie wollte sich gar nicht vorstellen, was es für Ms. Hammond bedeuten würde, wenn alle davon erfuhren. Man würde sich mindestens so sehr das Maul über sie zerreißen wie über Bonnie damals.
"Wie kann ich helfen?", verlangte sie daher zu wissen. Wenn sie es einem Mädchen wie Agnes ersparen konnte, das gleiche durchzumachen wie sie, dann wollte sie jede Chance nutzen.

Doch Nathan schüttelte erneut den Kopf. "Du kannst dich um Marissa kümmern, sie ist bestimmt aufgewühlt. Aber wir wissen nicht einmal wo sich Agnes befindet; Henry ist bereits auf der Suche nach ihr und Mr. Stafford und ich werden heute noch zu ihm stoßen."

"Ich werde später nach Stafford Hall gehen und nach Marissa sehen", versprach Bonnie ihm aufrichtig, denn ihre Freundin konnte ihre Unterstützung bestimmt besser gebrauchen, als Nathan, der bereits in Reitkleidung war. "Wann wirst du aufbrechen?"

Er griff nach den Handschuhen auf dem Beistelltisch neben sich. "Mr. Stafford erwartet mich bereits, wir sollten keine Zeit verlieren."

Beide erhoben sie sich und Bonnie folgte ihm noch bis zur Tür des Salons, wo sie stehenblieb. Ihre Schuhe lagen auf dem Boden neben dem Ohrensessel und in Strümpfen konnte sie ihn kaum durch den nassen Flur begleiten.
Im Türrahmen blieb er stehen und wandte sich noch einmal zu ihr um.

"Du weißt, wenn du etwas brauchst ..."

"... wird Bridgit sich darum kümmern", beendete sie seinen Satz für ihn und lächelte ihn warm an. Primrose Cottage war ihr mittlerweile ein wahres Zuhause geworden und sie bezweifelte, dass die Haushälterin ihr nicht jeden Wunsch von den Lippen ablesen konnte. "Pass auf dich auf."

Er erwiderte ihr Lächeln bemüht und öffnete den Mund, bevor er ihn wieder schloss, als hätte er es sich anders überlegt. Überrascht erstarrte Bonnie, als er sich vorbeugte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn drückte.

"Wenn ich zurückkomme, müssen wir reden. Es gibt etwas, dass ich dir längst hätte sagen sollen."

Dachte er noch immer, dass sie nicht Bescheid wusste? Er musste doch die verwüsteten Briefstapel entdeckt haben und seine Schlüsse daraus gezogen haben. Bonnie wurde von einem Gefühl der Unsicherheit gepackt. Hatte Bridgit womöglich aufgeräumt? Oder war er nicht mehr an der Lade gewesen seit ihrem Missgeschick?

DorfgeflüsterWhere stories live. Discover now