Kapitel 5 - Die Verwandschaft

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Überrascht richtete Bonnie sich auf und starrte ihr Gegenüber an. Nun da sie darüber nachdachte, hatte ihr tatsächlich noch niemand gesagt wie alt ihr Gastgeber war, aber da er der Bruder ihrers Vaters sein sollte, hatte sie ihn auf mindestens vierzig Jahre geschätzt. Langsam begann das Bild des freundlichen älteren Herrens zu bröckeln, das Bonnie sich in Gedanken aufgebaut hatte, doch was sonst sollte an seine Stelle?

"Habe ich Sie damit etwa erschrocken? Ich dachte Ihnen wäre der eigene Onkel bekannt. Eine interessante Familie, in der Sie nicht wissen, ob ihr Verwandter vierzig oder zwanzig Jahre alt ist. Nehmen Sie es mir bitte nicht böse, das ist nur ein dummer Gedanke."

Marissa Stafford lächelte leise, als Bonnie sich zu rechtfertigen begann. Obwohl sie keineswegs ein Ungeheuer war, amüsierte sie sich ganz gerne über die Fassungslosigkeit oder Verwirrung, die sie gelegentlich bei anderen hervorrufen konnte. "Nur durch seine Briefe fürchte ich, ich dachte stets er wäre ..."

"... ein alter Mann? Da muss ich sie leider enttäuschen, Miss Reading. Mr. Northwood ist in seinen besten Jahren und ein äußerst ansehnlicher Mann, darüber würde ich nicht lügen, immerhin ist beides von großer Bedeutung für mich."

Es ergab Sinn für sie, dass eine Frau wie Miss Stafford sich nicht mit weniger zufrieden geben würde, trotzdem konnte Bonnie es noch nicht ganz fassen. Ihr eigener Vater war gut über fünfzig, vielleicht sogar sechzig - so genau wusste sie das gar nicht, aber auf keinen Fall konnten weniger als 20 Jahre zwischen ihrem Onkel und seinem Bruder liegen. Solche Altersabstände sollten schon einmal vorkommen, aber Bonnie empfand diese neue Information trotzdem als merkwürdig. War dies der Grund, weshalb sie noch nie von ihrem Onkel gehört hatte? Bestimmt standen sich Geschwister, die nicht mehr zusammen aufgewachsen waren, nicht besonders nahe. Für den Moment beschloss sie jedoch der Sache nicht weiter nachzugehen und sich lieber auf ihren Gast zu konzentrieren.

"Ich denke wir sollten uns unbedingt besser kennenlernen, wenn Sie meine Tante werden, Miss Stafford", schlug sie daher fröhlich vor und ihre Gesprächspartnerin ließ ihre perlweißen Zähne blitzen.

"Sie haben recht, das müssen wir. Wie wäre es mit Tee bei mir? Morgen um vier?"
Ohne zu zögern stimmte Bonnie dem Vorschlag zu, auch wenn sie leichte Nervosität bei dem Gedanken verspürte, sich wieder in der feinen Gesellschaft zu bewegen.

***

Am frühen Nachmittag verließ Miss Stafford, die gar nicht geplant hatte so lange zu bleiben, Primrose Cottage wieder, um ihre neue Freundin nicht länger von ihrem Mittagessen fern zu halten.
Marissa war auf dem Heimweg in ausgelassener Stimmung, die auch das modrige Wetter nicht mehr trüben konnte. Normalerweise würde sie an solch einem Tag nicht in Erwägung ziehen das Haus zu verlassen, war ihr Regen und alles derartige doch ein Graus, aber die Neugierde über Mr. Northwoods Nichte hatte über diese Abneigung gesiegt, worüber sie im Nachhinein durchaus froh war. Miss Reading hatte sich als vorzeigbare junge Frau entpuppt, die nicht nur gesellschaftlich und altersmäßig gut zu ihr passen würde, nein, sie war auch bestens dafür geeignet, Mr. Northwood einen Stupser in Marissas Richtung zu geben. Und den brauchte er dringend, denn langsam verlor die jüngste Tochter der Staffords die Geduld mit ihm. Sie hatte nicht vor so einfach aufzugeben, doch trotz ständiger Besuche und wiederholten Aufmerksamkeiten ihrer- und auch seinerseits, schien er sich noch nicht dazu überwinden zu können, ihr die große Frage zu stellen. Hätte die niemals abebbende Flut an Freiern Marissas Selbstvertrauen nicht über die Jahre hinweg gestärkt, dann wäre sie vielleicht zu dem Beschluss gekommen, dass der Nachbar gar nicht an ihr interessiert war. So blieb dieser Gedanke jedoch nur ein nagendes Gefühl im Hinterkopf, das sie niemals ganz verließ, aber sich gut ignorieren ließ. Außerdem war es nicht so, als würde Mr. Northwood keine gemischten Signale senden. Ein Geschenk hier, eine Einladung dort, und schon war es nicht mehr ganz klar, welche Absichten er bezüglich der jüngsten Miss Stafford verfolgte. Mrs. Stafford redete ihrer Tochter daher weiterhin gut zu, denn der Besitzer von Primrose Cottage war eine ausgezeichnete Partie und ein benachbarter Freund der Familie. Als Mutter, die bereits zwei Töchter an entlegene Orte in England verloren hatte, wusste sie diese letzte Qualität besonders zu schätzen.

***

Auch Bonnie beschäftigte der Besuch von Miss Stafford noch eine ganze Weile und sie konnte mit ihren Fragen nicht mehr hinter dem Berg halten, als Bridgit und sie sich zu Tisch setzten.

"Kann ich sie etwas über meinen Onkel fragen?"

Die ältere Haushälterin nickte lächelnd. "Natürlich, alles was Sie wollen."

"Stimmt es, dass er so viel jünger ist als mein Vater?", fragte sie die Bedienstete vorsichtig, da sie nicht recht zugeben wollte, dass sie sich so in seiner Person getäuscht hatte. Sie hatte in London und ihren Briefen auch niemals persönliche Dinge erfragt, da sie bereits das Gefühl gehabt hatte mit ihrem Besuch die Freundlichkeit ihres wildfremden Verwandten zu strapazieren, und sich stattdessen auf unverfängliche Themen und Danksagungen beschränkt. Nun bereute sie dies ein wenig, da es bedeutete, dass sie womöglich auf noch weitere Überraschungen stoßen könnte.

Ein wissendes Schmunzeln formte sich auf Bridgits Gesicht. "Hat Miss Stafford mit Ihnen über Mr. Northwood gesprochen?"

Bonnie nickte bloß verlegen, da sie ahnte, dass die Schwärmerei ihrer neuen Bekanntschaft kein Geheimnis war.

"Er ist keine 35, wussten sie das gar nicht? Ich war mir sicher jemand hat Ihnen zumindest ein bisschen von ihm erzählt. Stellen Sie sich das einmal vor, Miss Reading, mir hat ihr Onkel auch erst vor einigen Wochen enthüllt, dass er Familie hat. Wie gibt es denn so etwas?", fuhr die Haushälterin kopfschüttelnd fort.

Bonnie nahm dieses Entsetzen als ein Zeichen dafür auf, dass Bridgit sich mit ihrer Familie gut verstand. Im Gegensatz zu der Bediensteten konnte sie selbst jedoch problemlos nachvollziehen, weshalb jemand nicht über seine Verwandtschaft sprechen wollte oder umgekehrt. Mr. und Mrs. Readings hatten sich seit dem unschönen Vorfall in London von ihrer Tochter distanziert - öffentlich wie privat und unterhielten nur noch den nötigsten Kontakt. Die Beziehung zwischen ihnen war dermaßen eingefroren, dass Bonnie noch nicht einmal in den Sinn gekommen war, den beiden von Maplehill aus einen Brief zu schreiben. Früher hatten sie und ihre Mutter viel Zeit miteinander verbracht, ob es nun auf der Suche nach der neuesten Mode oder beim Tee mit Familienfreunden war, sie hatten niemals Schwierigkeiten gehabt ein Thema zu finden, über das sie sich einig wurden. Bonnie hatte es daher anfangs sehr schlecht aufgenommen, dass dieselbe Frau nicht einmal mehr an einem Tisch mit ihr gesehen werden wollte, doch mittlerweile war sie darüber hinweg.
Acht Monate, schoss es ihr durch den Kopf. So lange ist der Unfall schon her.

"Verzeihen Sie meine deutlichen Worte, Miss, aber sie dürfen Miss Staffords Berichten nicht immer zur Gänze trauen. Ich schätze sie sehr, wie auch Mr. Northwood und jeder andere hier, aber sie kann sich in Halbwahrheiten und Tagträumereien verlieren."

"Sie kam mir recht bodenständig vor", hielt Bonnie verblüfft dagegen, da sie noch nichts dergleichen an Miss Stafford bemerkt hatte. "Und wirklich freundlich mir gegenüber."

"Das möchte ich auch gar nicht in Frage stellen, sie ist ja ein nettes junges Ding. Deswegen tut sie mir auch ein wenig leid, aber ... nein, lassen wir das."

Bonnies Neugierde war geweckt und sie musste nachbohren. "Weshalb müssen Sie Mitleid mit Ihr haben? Sie schien mir sehr zuversichtlich in allen Dingen."

"Das ist es ja eben, Miss. Sie ist sich mancher Dinge zu sicher. Mr. Northwood zum Beispiel", Bridgit hielt kurz inne, um zu sehen, ob ihre Gesprächspartnerin bereits eingeweiht war und fuhr erst nach einem dementsprechenden Zeichen fort, "Er ist ein guter Freund ihres Vaters und ihr keineswegs abgeneigt, aber die Verliebtheit, die sie sich erträumt, die kann ich ihm besten Willens nicht unterstellen. In seinen Augen ist sie die Tochter seines Freundes und ein nettes Mädchen, daher schätzt er sie, aber er würde niemals von ihr mit Leidenschaft sprechen."

Die düstere Neuigkeit, die Bridgit Bonnie mitteilte, nahm ihr für einen Moment den Atem. Wenn das stimmte - und sie traute der langjährigen Haushälterin eine gute Kenntnis ihres Onkels zu -, dann konnte Miss Stafford sich alle Mühe der Welt geben und würde doch nicht von Mr. Northwood beachtet werden. Bonnies Herz sank, als sie sich an Marissas selbstsicheres Grinsen erinnerte, dass ihre Pläne mit ihrem Onkel begleitet hatte.

"Vielleicht hätte ich Ihnen das nicht sagen sollen. Vergessen Sie es am besten gleich wieder", schlug Bridgit mit einem abschließenden Schulterzucken vor und begann wieder zu essen.

Auch Bonnie schwieg den Rest des Mittagessens über, da sie in Gedanken damit beschäftigt war nach einer zufriedenstellenden Lösung für Miss Stafford und Mr. Northwood zu suchen.

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