Kapitel 1

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- Ich fühle mich sehr abenteuerlustig. Es gibt noch so viele Türen, die zu öffnen sind, und ich habe keine Angst, dahinter zu schauen. -

- Elizabeth Taylor -


Ich lehnte mich zurück und massierte meine Schläfen mit den Fingerspitzen. Schon wieder kam ich mit meinen Hausaufgaben in Physik nicht weiter, schon wieder holten mich meine Kopfschmerzen ein.

Genervt pfefferte ich meinen Füller auf den Schreibtisch und öffnete das Dachfenster meines Zimmers. Der kalte frische Wind vertrieb den Mief in dem relativ großen Zimmer, ließ mich aber auch frösteln. Ich zog schnell eine schwarze Stoffjacke an, strich mir die blonden Haare zurück und packte den Block mit den schon fertigen Matheaufgaben zurück in meine Umhängetasche. Wenn ich mich heute noch länger mit Schule beschäftigen musste, würde ich noch einen richtigen Tobsuchtsanfall bekommen!

Um mich abzureagieren schloss ich mein Handy an die großen Lautsprecher an, wählte willkürlich eine Playlist und drehte den Lautstärkenregler bis zum Anschlag auf. Sollten die Nachbarn doch ruhig von meiner Leidenschaft für Saltatio Mortis, Santiano und Miracle of Sound erfahren. Beschwert hatte sich eh noch nie jemand.

Bis auf meine Mutter.

Ich ging noch auf die Schule, deshalb lebte ich noch zu Hause, in meinem alten Kinderzimmer, aber das würde sich bestimmt bald ändern. Sobald ich endlich mit der FOS und meiner Ausbildung danach fertig war. Dann müsste ich mir nicht immer die Lautstärke meiner Musik vorschreiben lassen, könnte mich endlich so verhalten wie ich wollte und...

Ich seufzte, schloss das Fenster wieder, steckte mein Handy ab und die Kopfhörer an. Es wurde langsam wieder Zeit, dass ich von hier verschwand. Bevor ich die Haustür hinter mir schloss und in die kalte Dämmerung trat, rief ich meiner Mutter noch zu, dass sie mit dem Essen nicht auf mich warten müsste. Nicht, dass sie das je tun würde.

Ich vergrub die Hände in den Taschen der schwarzen Jacke und stapfte durch die leeren Straßen der Siedlung. Nur wenige kamen mir entgegen, warfen mir einen kurzen Blick zu, grüßten und gingen weiter. Störten mich nicht. Neben der schwarzen Jacke trug ich noch gleichfarbige weite Stiefel mit flachen Nieten, eine ebenfalls schwarze Jeans und unter der Jacke noch ein schwarzes T-Shirt von Spiral mit einem aufgedruckten Steampunk-Totenschädel.

Schon lange musste sich meine Mutter damit abfinden, dass ich trug was mir gefiel und nicht, was sie für Richtig hielt. Ich war eben nicht das typische Mädchen. Und Gott, was hasste ich jene, die in dieses Bild passten - geschminkt, dem Trend gemäß gekleidet und immer am Lästern und Lachen. Massenproduktion, angetrieben von der Maschinerie der Globalisierung. Ich schüttelte kurz den Kopf, versuchte diese Gedanken zu vertreiben und mich darauf zu konzentrieren, wen ich jetzt dann gleich treffen würde - immerhin hatte ich ihr versprochen, mich das nächste Mal nicht über die Gesellschaft bei ihr auszulassen.

Meine Schritte verließen die geteerten Straßen und führten mich auf einen ausgetretenen Wildwechsel, welcher mich tief in den Schatten des nahen Waldstückes führte. Sie lebte hier seit ungefähr einem Jahr, aber eigentlich begleitete sie mich schon ganze acht Jahre lang - kurz nachdem ich zehn Jahre alt geworden war.

Ich schob die Zweige aus dem Weg, stieg über alte hohe Wurzeln und kletterte unter einem umgestürzten Baum hindurch auf eine kleine Lichtung. Das Gras hier war noch leicht verdorrt durch den vergangenen Winter, die Dämmerung brachte die Vögel langsam zum Schweigen. Mitten in der Lichtung thronten die Bruchstücke eines einstigen Felsens, den irgendein Gletscher zurück gelassen haben musste. Wie immer ließ ich mich auf einem der Gesteinsbrocken nieder, schaltete mein Handy aus und wartete. Wartete auf die Dunkelheit und meine älteste Freundin.

Die Hüter des Lichts - Shadow and LightWhere stories live. Discover now