Kapitel Vierunddreißig, Nio

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Nios Locken flogen durch die Luft, während er seinen Trommelrhythmus aufrechthielt. Er versuchte, sich in der Musik zu verlieren, wie sonst auch, aber es gelang ihm nicht ganz. Nicht bei den vielen Leuten um ihn herum. Rebellen, Passanten, Wächter. Eine riesige Menschenmenge hatte sich angesammelt und tanzte zu der aus dem Lautsprecher dröhnenden Musik und den Klängen seiner Trommeln. 

Dennoch konnte Nio nicht verhindern, dass er lächelte. Das war lange ein Traum von ihm gewesen - öffentlich zu spielen. Der Fünfundzwanzigjährige hatte die Trommeln von seiner Großmutter geschenkt bekommen; seine Familie hatte ihn darin bestärkt, Musik zu machen. Aber damit an die Öffentlichkeit hatte er nie gehen können. Er hatte nicht einmal jemandem davon erzählen dürfen. 

Die Rebellion war perfekt für ihn, das, was er sich schon so lange gewünscht hatte. Sie mussten die Musik einfach zurückbringen. Musik war fantastisch, berührend, wichtig, ja, unverzichtbar. Er wollte nicht länger in einer stillen Welt leben, in der jegliches kreative Denken unterdrückt wurde. Nicht mit ihm. 

Er trommelte weiter, steigerte die Schnelligkeit seines Rhythmus'. "Die Zukunft gehört uns!", brüllte er zwischendrin, was Jubel zur Folge hatte. Nio fühlte sich großartig. Es war das erste Mal seit Langem, dass er sich nicht wünschte, nach New Africa zurückzukehren, ein Land, das seine Familie vor Jahren verlassen hatte. In New Africa war die Musik nicht verboten gewesen. 

Aber seine Familie hatte die Aussicht auf eine sichere Arbeit der Musik vorgezogen. Nur die Trommeln hatte Nio bekommen, um ihn über das wegzutrösten, was er verloren hatte. In New Africa war die Musik ständig präsent gewesen, sie wurde so eifrig gespielt als könnte sie ihr Land vor dem endgültigen Untergang bewahren. Vielleicht konnte sie das. Auf dem Schwarzmarkt wurde ihre Musik für viel Geld gehandelt. Aber ob das reichte?

New Africa war gegründet worden, um neu anzufangen. An der unteren Spitze des Kontinents hatten einige Bevölkerungsgruppen einen Ort aufbauen wollen, der im Gegensatz zur schreienden Armut um sie herum stand. Einen Ort, der nie Krieg führen würde. Einen Ort, wo Menschen hingehen konnten, denen es besonders schlecht ging. Einen Ort mit innovativer und nachhaltiger Versorgung und Technik. Führende Wissenschaftler hatten das Projekt unterstützt, Ideen beigesteuert, Geld gestiftet. Es waren gute Aussichten gewesen. Nio Eltern waren nach New Africa gezogen, als das Land noch sehr jung gewesen war. 

Aber dann war es bergab gegangen. Ein Großteil ihrer Unterstützter hatte sich von ihnen abgewandt, als klar wurde, dass es Jahrzehnte dauern würde, bis sie von New Africa profitieren und ihr investiertes Geld wieder rausholen konnten. Sie hatten eine Gebühr einführen wollen, die jeder, der im Land wohnen wollte, zu errichten hatte. Doch der Rest der am Projekt beteiligten hatten sich klar dagegen ausgesprochen; es war gegen den Grundgedanken von New Africa gewesen. 

Ohne finanzielle Unterstützung und auf sich allein gestellt hatten die Leute versucht, sich selbst zu versorgen, aber mit mäßigem Erfolg. Viele waren wieder umgezogen, der Rest lebte bis heute - so viel Nio wusste - in noch größerer Armut als zuvor. Um sie herum tobte Krieg. Krieg um Ressourcen, Krieg um Land. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch New Africa dem Krieg zum Opfer fiel. 

Dennoch hatte Nio seit ihrer abenteuerlichen Flucht übers Meer nichts anderes gewollt als zurück. Trotz seiner Trommeln hatte er die Musik schmerzlich vermisst - bis Niall, ein Freund von ihm, ihm von der Rebellion erzählt hatte. 

Nio wusste, dass sie gewinnen konnten. Vor allem jetzt, da die Wächter sich ihnen angeschlossen hatten und tanzten. Sie würden die Regierung von ihrer Sache überzeugen. "Wir gewinnen! Die Zukunft gehört uns!", schrie er abermals. Die Menge tobte. Nio legte sich ins Zeug, trommelte, so gut er konnte. Alles andere rückte in den Hintergrund. Es waren nur noch er, die Musik, die Leute und die Rebellion. Niemand wollte das Verbot der Musik. Warum also existierte es? Es war sinnlos und willkürlich. Nio wollte in einem Staat leben, wo er als Bürger etwas zu sagen hatte. Auch das war ihre Forderung heute - Mitbestimmungsrecht, was mit ihnen gemacht wurde. 

Immer mehr Menschen kamen zur Gruppe hinzu. Jemand begann, lautstark zu singen. Es war ein Potpourri als Geräuschen und es passte nicht mehr zusammen, aber es war schön. Es war perfekt. Nio jubelte. Sie würden gewinnen. Es war egal, ob die Wächter wussten, wo sie waren, es war egal, ob er vorhin Schüsse gehört hatte, sie würden gewinnen. Sie waren nicht aufzuhalten. 

Er musste sich bei Gelegenheit bei Alecia bedanken, dachte er. Sie war genial. Dieser Plan war genial. Die Rebellion war die Zukunft. Musik war die Zukunft. Sie waren die Zukunft.

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now