Kapitel Achtundzwanzig, Lyria

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Lyria Benton wurde vor der Rebellion geboren. Damals, als die Menschen noch Nachnamen statt Nummern hatten und als Musik etwas Alltägliches war. Sie lief überall im Hintergrund, wo auch immer man war, den Texten schenkten die wenigsten Beachtung. 

Lyrias eigene Musik hatte gar keinen Text. Sie war professionelle Ballerina und das Tanzen ihr gesamter Lebensinhalt. Schon mit zwölf wusste sie, dass sie nie etwas anderes machen wollte als zu tanzen. Und ihre Träume wurden erfüllt. Vorerst zumindest.

Sie besuchte eine Ballettakademie, in der ihr das Tanzen beigebracht wurde. Das Internat war teuer und die Lehrer streng, aber spätestens als Lyria das erste Mal auf der Bühne stand, wusste sie, dass es das alles wert war. Sie arbeitete sich schnell hoch bis zu den Hauptrollen in den Tanzaufführungen der Akademie, ihr großer Ehrgeiz machte sich bezahlt. 

Mit 25 Jahren war sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hatte selbst gerade angefangen, zu unterrichten, da hörte sie zum ersten Mal Musik, die als Propaganda verwendet wurde. 

Die Änderungen am Gesetz, die die Regierung zuvor vorgenommen hatte, waren an ihr vorbeigegangen. Dass es nun Nummern geben sollte, statt Nachnamen - um Verwirrung wegen mehrfach besetzter Nachnamen zu verhindern -, hatte sie nicht betroffen, denn sie galt als bekannte Persönlichkeit und durfte als solche ihren Namen behalten. Auch die neu eingeführten Steuern konnte sie leicht bezahlen. 

Als sie also die Texte der Musik hörte, die eine Änderung der neuen Regeln forderte, war sie zuerst gleichermaßen fasziniert und verängstigt. Doch schließlich siegte die Angst. Als die ersten Leute starben, hörte Lyria auf, aufzutreten und zu unterrichten. Sie verschanzte sich in ihrem Haus, fürchtete sich Tag und Nacht davor, dass sie die Nächste sein würde. Da sie keine Familie hatte, war die Musik alles, an dem sie sich festklammerte. Sie machte sie nie zu laut, damit niemand auf sie aufmerksam wurde, aber hinter zugezogenen Vorhängen tanzte sie den ganzen Tag.

Sie überlebte. Sie verbrachte mehrere Monate in ihrer Wohnung eingeschlossen, ließ sich Essen liefern und lebte von dem Geld, das sie als Profitänzerin verdient hatte. Es waren lange, einsame Monate, aber sie überlebte.

Nun, fünfzig Jahre später, stand sie selbst auf der Seite der Rebellen. 

Sie war allein, im Osten der Stadt positioniert. Vorübergehende Leute sahen sie skeptisch an, da sie ihre alte Ballettkleidung trug. Die alte Frau wusste, dass es komisch aussehen musste, aber sie brauchte die Erinnerung. 

Mit einem Seufzen drehte sie sich um, um die Uhrzeit auf der Werbetafel hinter ihr lesen zu können. Noch zwei Minuten. Sie holte tief Luft. Gleich würde sie zum ersten Mal seit langem öffentlich tanzen. 

Und wahrscheinlich auch zum letzten Mal.

Sie holte das Abspielgerät aus der Einkaufstasche zu ihren Füßen und stellte es vor sich. So unauffällig wie möglich begann sie mit einigen Stretchingbewegungen.

Und dann schaltete sie die Musik an. 

Sie war froh, als die Töne zu hören waren, obwohl sie DJs technischen Fähigkeiten grundsätzlich vertraute. Denn trotz allem musste es ein Risiko sein, aus einem alten Computer so etwas zusammenzubauen - das ahnte selbst sie, die von Technik wenig Ahnung hatte. 

Aber sie konnte nicht darüber nachdenken. 

Sie musste tanzen. 

Also begann sie, sich im Takt zur Musik zu bewegen. Für einen Moment lang fühlte sie sich jünger, so wie damals, als sie völlig legal vor einem großen Publikum getanzt hatte.

Leute blieben stehen, starrten sie an. Es war nicht das Publikum, das sie gewohnt war, aber das machte ihr nichts aus. 

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntDove le storie prendono vita. Scoprilo ora