Kapitel Zweiundzwanzig, Maven

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Es war inzwischen offensichtlich, dass die Rebellion nicht wie geplant stattfinden konnte. Die kleine Gruppe saß immer noch in Sheenas Wohnung fest, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte oder ob sie in Sicherheit waren. Außerdem konnte es sich seit dem Vorfall mit C ohnehin niemand mehr vorstellen, noch zu rebellieren. Zu frisch und stark war der Schmerz, zu unerwartet das Ereignis. Es hatte sie alle aus der Bahn geworfen und nun eierten sie herum, versanken von Tag zu Tag mal mehr, mal weniger in ihrer Trauer.

Maven war nahe an der Verzweiflung. Wegen C, wegen Julica, wegen der Rebellion. Er trauerte abwechselnd und stellte sich Elwin vor, der zu Hause saß und sich um ihn fürchtete. Und seine Eltern. Seine Eltern mussten halb krank vor Sorge sein.

Immer wieder fragte er sich, ob sie Julicas Festnahme und seine Flucht wohl in den Nachrichten gebracht hatten. Dann wüsste seine Familie zumindest, dass er noch am Leben war. Aber vielleicht wollten sie auch verhindern, dass jegliches Wissen über rebellische Aktivitäten an die Öffentlichkeit drang. Das sähe ihnen ähnlich, dachte Maven.

Doch die Antwort auf seine Frage bekam er bald geliefert. Es war Sheena, die, nur zwei Tage nach Cs «Beerdigung», aufgeregt von einem Treffen mit einer Freundin zurückkam. «Habt ihr mal nach draußen geschaut?», fragte sie, kaum war die Haustür hinter ihr zugefallen. «Da sind überall blaue Streifen! Und eine Wegbeschreibung!»

«Eine Wegbeschreibung? Verschlüsselt?» Maven war ganz aufgeregt. Zum ersten Mal seit Langem spürte er wieder etwas anderes als Wut und dumpfe Trauer. War vielleicht doch noch nicht alles vorbei?

Sheena nickte eifrig. «Natürlich. Führt zu einem Haus auf der anderen Seite der Stadt.»

«Bist du dir sicher, dass das keine Falle ist?», fragte Alecia. «So wie beispielsweise in ...»

«Ach was, woher sollten die unseren Code kennen?», unterbrach Maven sie. Er fühlte sich wach, wie nach einem dreifachen Espresso und einer kalten Dusche. Er wollte am liebsten sofort los, obwohl er wusste, dass das bei Tageslicht mit seinem sofortigen Tod geendet hätte. Er wollte vergessen, weitermachen, rebellieren.

«Julica», erwiderte Alecia trocken und seine ganzen Träume stürzten wieder in sich zusammen.

«Es ist ein Risiko», sagte Sheena. «Aber ich glaube, wenn wir den Anweisungen nicht folgen, dann bewirken wir hier gar nichts mehr. Die Frage ist, ob es euch das wert ist.»

Alecia seufzte. «Ich weiß nicht.»

«Ich würde gehen», sagte Maven. Er war bereit, sein Leben zu riskieren, auch wenn es alles andere als ein heldenhafter Tod war. Besser als hier rumzusitzen und zu trauern und sich immer wieder die Frage zu stellen, wie es weitergehen sollte.

«Gehen wir. Bitte, lasst uns gehen», sagte DJ.

Freya nickte nur.

Alecia seufzte erneut. «Okay. Hoffen wir darauf, dass sie Julica nicht gefoltert haben, um diese Information aus ihr rauszubekommen.»

«Gefoltert? Du liest zu viele Bücher, Alecia. Hier foltert niemand andere Leute. Wir sind ein zivilisierter Staat, trotz der unsinnigen Verbote», meinte Maven.

«Wir sind ein zivilisierter Staat. Hört, hört.» Sie schnaubte. «Toller Rebell.»

«So habe ich das gar nicht gemeint!»

«Ihr streitet euch schon wieder!», unterbrach Freya sie. «Wir gehen heute Nacht zu dem Haus, das sie angegeben haben. Wir werden uns aufteilen. Zwei von uns gehen zuerst, und wenn sie auf den Rest der Gruppe treffen, schicken sie den anderen eine Nachricht. Okay?»

Sie nickten.

«Ich gehe», sagte Maven, der so schnell wie möglich hier rauswollte.

«Super. Wer sonst noch?», fragte Freya.

Stille setzte ein. Egal, wie überzeugt sie von der Idee waren, niemand war bereit, sein Leben dafür zu opfern. Dafür war das Risiko zu groß, die Sache zu ungewiss. Maven bereitete sich schon darauf vor, alleine gehen zu müssen, als plötzlich Alecia mit fester Stimme sagte:

„Ich."

Alle sahen sie an. Sie stand mit hochgerecktem Kinn da, die kleinen Hände zu Fäusten geballt.

„Du?", rutschte es Maven heraus. Sie war ja nicht einmal dafür gewesen, das Ganze überhaupt zu unternehmen!

„Ja, ich. Ich bin schuld daran, dass wir alle in dieser Lage sind. Nun kann ich der Gruppe auch helfen", sagte sie. Maven sah die Angst in ihren Augen.

„Du bist nicht ...", setzte er an, aber sie unterbrach ihn:

„Doch. Es ist meine Schuld und das wissen wir alle. Ich gehe und ihr könnt mich nicht davon abhalten."

„Dann also Maven und Alecia", sagte Sheena. „Wann wollt ihr gehen? Heute Nacht?"

„Heute Nacht, kurz nach Mitternacht, würde ich sagen", sagte Alecia. „Können wir dein Phone nehmen, Freya? Eine Nachricht von dir an Sheena – verschlüsselt natürlich – sollte nicht verdächtig wirken, selbst wenn sie abgefangen wird. Schließlich seid ihr Freundinnen."

Die beiden Frauen nickten.

„Bist du dir sicher, Alecia?", fragte Freya.

„Natürlich bin ich mir sicher!", fuhr Alecia sie an. „Warum kann ich nicht einfach gehen?"

„Du kannst gehen. Ich will nur nicht, dass du aus Wut auf dich selbst etwas tust, wozu du dich eigentlich nicht in der Lage fühlst", erwiderte Freya.

„Ich fühle mich sehr wohl in der Lage dazu, vielen Dank. Wenn ihr mich dann entschuldigt ..." Alecia drehte sich um und verließ das Wohnzimmer. Bruchteile von Sekunden später hörte Maven die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer zuknallen.

Betretenes Schweigen. Maven hatte das Schweigen in vielen Formen kennengelernt, seit Alecia ihn gerettet hatte, aber es überraschte ihn immer wieder von Neuem. Das Schweigen war wie ein Tier, das seine Form wandeln konnte, und immer tauchte es in leicht variierter Form auf, eine Art unangenehmer als die andere.

Maven wusste, dass es auch so etwas wie ein „gutes Schweigen" gab, dann, wenn nichts gesagt wurde, weil sich zwei Leute auch ohne Worte verstanden, aber erlebt hatte er es kaum je.

Als er die Stille im Raum nicht mehr aushielt, ging er in die Küche, um zu kochen. Er durchsuchte die Schränke nach irgendetwas, fand schließlich Reis, Bohnen und Tomatensoße aus der Dose. Er konnte nicht gut kochen, aber es war okay.

„Abendessen ist fertig!", rief er, als er das Essen auf vier Tellern angerichtet hatte; er selbst würde nichts herunterkriegen. Nicht bei dem, was ihm bevorstand.

Die Rebellen setzten sich an den Esstisch und er stellte die Teller vor sie, aber schlussendlich landete das Essen im Kühlschrank, weil niemand aß. Alle stocherten nur in ihren Tellern herum, richteten ihren Blick auf den Reis vor sich, um einander nicht ansehen zu müssen. Alecia tauchte gar nicht auf. Aus dem Gästezimmer hörte Maven leise Gitarrenklänge.

Die Sonne ging unter und das Warten begann. Die Stunden schienen sich in die Länge zu ziehen wie zähes Karamell, jede Minute dauerte Tage. Niemand wollte schlafen. Aus dem Schweigen wurden einsilbige Gespräche.

Sheena und Freya begannen mit einem Kartenspiel, DJ hörte Musik. Maven wippte im Takt zu den Klängen ihrer selbst geschriebenen Lieder, während er den Abwasch machte und die Küche aufräumte. Er räumte nicht gerne auf, doch nun wünschte er sich, er hätte beim Kochen eine größere Unordnung angerichtet, denn als er fertig war, hatte er nichts mehr zu tun.

So beschloss er irgendwann, zu Alecia ins Gästezimmer zu gehen. Vielleicht konnte er sie ein wenig beruhigen – auch wenn er selbst nicht gerade ruhig war –, und wenn sie nicht mit ihm redete, hatte er dort wenigstens ein Bett, um sich doch noch für einige Stunden hinzulegen.

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWhere stories live. Discover now