Kapitel Sechs, Alecia

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Der Mond warf ein fahles Licht durch die Fenster, in dem Mavens Unordnung beinahe schön aussah. Ich lag auf dem Sofa und versuchte seit Stunden vergeblich, einzuschlafen. Wie viel Zeit genau vergangen war, wusste ich nicht. Maven besaß keine Uhr - er hatte sie, zusammen mit dem Rest der wertvolleren Dinge, die er besaß, vor seiner Aktion im Park verkauft und das Geld seiner Familie geschickt. Zumindest hatte er das erzählt.

Eine Weile versuchte ich, die Sekunden zu zählen, aber ich war in Gedanken ganz woanders. Ich musste immer wieder an die Situation im Park denken, wie wir vor den Wachmännern geflohen waren, wie ich plötzlich jemand war, der das Gesetz übertrat. Und zwar durch mehr als durch das Lesen illegaler Bücher.

Ich gefährdete Mavens Leben, mein eigenes, das meiner Eltern und meiner Schwestern. Und wahrscheinlich noch das von viel mehr Menschen, falls morgen tatsächlich jeder drei Personen, denen er vertraute, mitbrachte. In dieser Rebellion würden Menschen sterben, in jeder Rebellion starben Menschen. Menschen, die dann blutüberströmt auf dem Boden lagen, während entweder Rebellen oder Gegner der Rebellen über sie hinwegtrampelten, um noch mehr Menschen zu töten. Mir wurde schlecht bei der Vorstellung.

Aber nun konnte ich keinen Rückzieher mehr machen. Ich hatte mit dieser ganzen "Ich zeige dir, wie man mit einer Rebellion beginnt"-Sache angefangen. Nun würde ich es auch zu Ende führen müssen, bis wir gewannen ... oder allesamt starben.

Ich versuchte, die Vorstellung meiner sterbenden Eltern zu verdrängen, aber es gelang mir nicht. Sie setzte sich in meinem Kopf fest, überschattete alles andere, sogar den Gedanken daran, dass unsere Rebellion womöglich sogar gelingen konnte.

Denn selbst wenn, war es das wirklich wert?

Die Tatsache, dass ich mich das überhaupt fragte, ließ mich an unserem Vorhaben zweifeln. Und an meiner Loyalität zu den Rebellen, zu meinem eigenen Plan. Selbst wenn wir der Stadt die Musik zurückgaben, so viele Leute würden dabei sterben.

Aber jetzt war es zu spät, um alles rückgängig zu machen. Nun konnte ich nichts mehr weiter tun als dafür zu sorgen, dass niemand von uns umsonst starb.

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Irgendwann musste ich doch noch eingeschlafen sein, denn ich wurde von der aufgehenden Sonne geweckt. Die ersten Strahlen, die zwischen den Wolkenkratzern um uns herum hindurchfielen, blendeten mich und weckten mich aus meinem unruhigen Schlaf. Es war eine beinahe idyllische Szene, abgesehen davon, dass ich auf einem Sofa lag, bei dem auf ein Kissen wahrscheinlich fünfzig Krümel kamen, und dass ich heute Abend vierundvierzig Menschen einen Plan erklären würde, der potenziell tödlich für sie enden konnte. Aber ansonsten war es eine idyllische Szene, doch, ja.

Da Maven noch zu schlafen schien, - oder wach lag und die Decke anstarrte, so wie ich letzte Nacht - stand ich so leise wie möglich auf und ging zum Fenster. Habe ich bereits erwähnt, dass die Wohnung des Rebellen im obersten Stock eines fünfstöckigen Hauses lag, in dem sich unten ein kleiner Lebensmittelladen befand? Die Aussicht war dementsprechend. So hoch über den Straßen zu sein war schön, und obwohl um mich herum noch höhere Häuser in den Himmel ragten, fühlte ich mich beinahe groß. Ich konnte auf die Köpfe der ersten Passanten hinuntersehen, die zur Arbeit eilten, und auf die kleinen umherflitzenden Autos.

Es war noch verhältnismäßig ruhig und ich fragte mich, wie spät es eigentlich war. Die Sonne war inzwischen vollständig aufgegangen und langsam, eine nach der anderen, schalteten sich die Werbetafeln ein.

Also sechs Uhr.

Mein Vater hatte eine Zeit lang bei der Koordination und Organisation dieser Tafeln mitgeholfen, bevor er den Job gewechselt hatte, daher wusste ich das.

Froh, wenigstens eine Zeitangabe zu haben, machte ich mich auf die Suche nach Mavens Küche. Ich würde Frühstück machen, um zumindest ein halbwegs gutes Klima zwischen uns herzustellen, denn Rebellen sollten sich gut verstehen. Und vielleicht musste ich mir dann auch keine Witze über meine Bücher mehr anhören.

Die Küche fand ich schnell, mit dem Essen war es jedoch ein anderes Thema. Sämtliche von Mavens Küchenschränken waren leer.

Natürlich. Wenn man vorhatte, zu sterben, kaufte man davor nicht noch unbedingt ein.

Mein Magen knurrte im selben Moment wie ich seufzte. Ich war hungrig. Gestern war so viel passiert, dass es mir gar nicht aufgefallen war, aber nun merkte ich, dass ich seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hatte.

Ganz hinten im Kühlschrank fand ich schließlich eine angebrochene Packung Knäckebrot mit abgelaufener Datumsangabe. Es schmeckte nicht so schlecht wie das jetzt vielleicht klang, es war durchaus essbar. Ich aß die Hälfte der Packung und stellte die andere Hälfte für Maven auf den Küchentisch. Mein Plan, Frühstück zu machen, verlief nicht ganz so, wie ich es geplant hatte.

Als Maven schließlich aufstand, saß ich wieder auf seinem Sofa und las, mit immer noch knurrendem Magen, meinen eigenen Plan wieder und wieder durch, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen.

"Bereit für heute?", fragte er beinahe beiläufig.

Ich zuckte die Achseln. "In der Küche steht Knäckebrot", sagte ich, um vom Bevorstehenden abzulenken. "Es sind noch vier Stück drin, die vier anderen habe ich gegessen."

"Ich habe Elwin doch gesagt, er soll Pizza bringen!", beschwerte er sich. Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen. "Elwin! Er ist gestern gar nicht gekommen!"

"Hätte er kommen sollen?", hakte ich nach.

"Mann, natürlich hätte er kommen sollen! Wenn ihm was zugestoßen ist ..."

Ich schluckte leer. Probleme in diesem Stadium sah der Plan nicht vor. Es hatte mir unmöglich geschienen, dass so früh tatsächlich etwas passieren könnte. Nicht, so lange wir versteckt blieben.

Fluchend drehte Maven sich im Kreis, mit den Händen wieder und wieder seine Haare raufend. "Was machen wir jetzt bloß? Was ist, wenn sie ihn gefunden haben? Was ist, wenn sie Kontakt zu meiner Familie aufgenommen haben?"

Er riss die Wohnungstür auf. "Ich muss zu meinen Eltern", sagte er, dann stürmte er hinaus.

Ich hielt die Tür fest, bevor sie zufallen konnte, und folgte ihm. Er war schnell, zu schnell, als dass ich ihn hätte einholen können, also versuchte ich es mit rufen: "Du kannst nicht raus! Du verrätst uns! Bleib stehen!"

Überraschenderweise blieb er tatsächlich stehen und drehte sich zu mir um. Eine Weile lang sagte niemand von uns etwas, dann kam er langsam die Treppe wieder hoch.

Im Stock unter uns öffnete sich eine Tür. "Was schreit ihr hier so rum? Es ist acht Uhr morgens!", rief eine weibliche Stimme.

Maven ließ sich auf den Boden fallen. "Sei still", zischte er.

"Hallo?", kam es von unten.

Ich hielt den Atem an.

Eine Tür fiel ins Schloss. Als wir danach nichts mehr hörten, stand Maven langsam wieder auf und wir zogen uns in seine Wohnung zurück.

"Das war knapp", keuchte ich, als er die Tür hinter uns schloss. "Du hast mir nie gesagt, dass in diesem Haus noch Menschen wohnen!"

"Natürlich wohnen da Menschen!" Er verdrehte entnervt die Augen. "Nur diese Wohnung hier steht offiziell leer. Falls ich erwischt werde, wie ich hier hochgehe, sage ich einfach immer, ich mache eine Wohnungsbesichtigung."

"Und wenn mal jemand anderes eine Wohnungsbesichtigung machen möchte?", hakte ich ein wenig skeptisch nach.

"Die Wohnung ist nirgends ausgeschrieben. Hat mein Vater für mich eingerichtet. Und jetzt hör mit den Fragen auf. Wir müssen uns um meinen Bruder kümmern." Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. "Was sollen wir machen? Steht das nicht in irgendeinem deiner klugen Bücher?"

Ich sah ihn hilflos an. "Nein."

DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt