Kapitel 14 - Alles braucht Zeit

289 17 2
                                    

Die Tage danach verschwimmen ineinander, fast als wäre es alles ein Traum. Zweifellos ein grässlicher, nicht endender Alptraum. Der letzte Tag, an den sich Marc vor dem Unfall erinnern kann, ist ein Tag vor dem Spiel Barcelona gegen Real Madrid. Fast ein ganzes Jahr, bevor er nach Dortmund gewechselt ist. Durch die Gehirnblutung hat er unzählige Sachen einfach vergessen. Egal wie wichtig oder unwichtig. Er kann sich nicht erinnern, Spanien verlassen zu haben, noch mich je getroffen zu haben.

Nachdem mich mein Bruder im Krankenhaus gefunden hat, haben sich die Ereignisse nur überschlagen. Die Ärzte haben sofort beschlossen, Marc abzuschotten. Nur Menschen, die er bereits vorher kannte, durften zu ihm. Natürlich hatten Marcs Eltern Mitleid mit mir, aber sie sind einfach zu froh, dass er noch am Leben ist, um sich für mich einzusetzen. Deshalb hat mich Marco nach Hause gebracht und nach einer Woche in Therapie mit meiner Familie, Amy und Kiara als Therapeuten, hatten sie mich überzeugt, dass ich nicht aufgeben darf.

«Denkst du wirklich, du schaffst es nicht, ihn noch einmal dazu zu bringen, sich in dich zu verlieben?», war etwas, dass sie unzählige Male gesagt haben. Und als ich es endlich selbst geglaubt habe, war es schon zu spät. Es gibt keine Worte, die beschreiben wie ich mich gefühlt habe, als ich hörte, dass Marcs Vertrag seiner Gesundheit zu liebe frühzeitig aufgelöst wurde und er mit seiner Familie nach Spanien zurückgehen würde. Seine Fussballkarriere ist nicht zu Ende, aber momentan auf Pause. Wegen des Attentates, wird er mehr als ein Jahr nicht spielen dürfen. Eine Gehirnoperation und eine so schwere Armverletzung, dauert bis es verheilt ist. Obwohl das wohl niemals wirklich sein wird.

Laut einer Pressemitteilung des BVBs, kann sich Marc noch immer an nichts erinnern und es sei unwahrscheinlich, dass die Erinnerungen je wieder zurückkommen würden. Da mich niemand informiert hat und auch Marcs Eltern trotz meinen Anrufen und Nachrichten nie zurückgerufen oder geschrieben haben, muss ich genau wie mein Bruder und sein Team auf diese Informationen vertrauen. Obwohl mein Bruder und ich versucht haben herauszufinden, wo Carimo jetzt ist, wissen wir es nicht. Im Krankenhaus ist er anscheinend nicht mehr. Wir versuchen wirklich alles, denn wir wissen, dass er sich noch in Deutschland befinden muss.

Ich habe schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, mit Marc oder seinen Eltern zu sprechen, als ich durch Zufall auf seine Mutter treffe. Sie hat anscheinend ebenfalls Lebensmittel einkaufen müssen. «Montse?», rufe ich ihren Namen. Marcs Mutter steht nur Meter von mir entfernt und starrt auf eine Stadtkarte, die sie in den Fingern hält. Sie sieht sofort auf. Als sie mich erblickt, weicht ihr fragender Blick zu einem ärgerlichen und sehr distanzierten. «Lily», begrüsst sie mich. Ich bleibe vor ihr stehen. Sie versucht meinem Blick auszuweichen, aber ich lasse sie jetzt nicht damit davonkommen. Nicht wenn ich Carimo verlieren könnte. «Ich habe angerufen und Nachrichten geschrieben.», sage ich. Es ist mehr eine Feststellung, als eine Mitteilung. Wir wissen beide, dass ich unzählige Male versucht habe anzurufen und fünf Mal pro Tag geschrieben habe. Sie versucht weiterhin meinem Blick auszuweichen. «Ich wollte Marc im Krankenhaus besuchen.», füge ich hinzu. «Zuerst konnten sie mich nicht ins Zimmer lassen, weil es ärztliche Anweisungen gab. Und dann haben sie gesagt, dass Marc nicht mehr dort sei.»

Montse gibt es schliesslich auf, mir auszuweichen und erwidert meinen Blick. «Ja, ich weiss. Hör mal, es ist nett, dass du dich für Marcs Gesundheit interessierst, aber ich habe gerade keine Zeit.» Ich spüre wie mein Ärger immer grösser wird. Wieso kann sie mich nicht einmal richtig ansehen? «Natürlich interessiere ich mich für die Gesundheit meines Freundes!», antworte ich, etwas lauter als beabsichtigt. Ich spüre wie mein Ärger aufwallt. Wieso hat sie sich nicht bei mir gemeldet? Was habe ich falsch gemacht? Ich sehe zu, wie sie ihre Lippe etwas hervorschiebt und schliesslich gepresst meint: «Er ist nicht mehr dein Freund.» Aus irgendeinem Grund überraschen mich die Worte nicht. Dass sich niemand von Marcs Familie bei mir gemeldet hat, dass sie mir ausgewichen sind, hat schon auf so etwas deuten lassen. Aber weh tut es trotzdem.

«Er kann sich nicht mehr an dich erinnern. Wir werden so bald wie möglich zurück nach Spanien fliegen und es wäre für uns alle das Beste, wenn du nicht mehr auftauchst und uns alle in Ruhe lässt.» Sie holt tief Luft und schaut mich an. Ihr Blick ist nicht herzlos, im Gegensatz zu ihren Worten. Und obwohl sie mir gerade das Herz bricht, verstehe ich sie. Sie will nur das Beste für Marc. Und ist das auch nicht mein Ziel? «Marc muss sich jetzt erholen. Er kann es kaum verstehen, dass er anscheinend nach Deutschland gezogen ist und er sich an nichts erinnern kann. Er ist verwirrt und er ist emotional nicht stabil. Es würde ihn nur noch mehr zurückwerfen, wenn plötzlich seine Exfreundin auftaucht und ihn anfleht, zu ihm zurückzukommen, wo er sich nicht einmal an sie erinnern kann. Es tut mir leid Lily, aber du musst ihn gehen lassen.» Der kalte Blick ist gewichen und ich kann sehen, dass sie mich versteht. Sie versteht, wie weh sie mir mit ihren Worten tut. Aber eine Mutter liebt nichts mehr als ihr Kind.

Ich wünschte ich hätte in Tränen ausbrechen können. Aber stattdessen stehe ich vor der Mutter meines Freundes - anscheinend jetzt Exfreundes, die mir versucht beizubringen, dass ich ihn nicht mehr sehen kann. Das ich ihn ebenfalls vergessen soll, und fühle mich leer. Von der siebten Wolke bin ich schon lange abgestürzt, aufgeprallt bin ich im Krankenhaus mit Marc. Und jetzt fühle mich als wäre ich in einer eisigen Höhle gefangen, kurz vor dem sterben. Ich wünschte nur alle Schmerzen wären weg.

So melodramatisch es sich auch anhört, ein bisschen wünsche ich es mir zu sterben. Wie kann es sein, das alles perfekt ist und im nächsten Moment die ganze Welt zusammenstürzt? «Ich muss jetzt gehen.», meint Marcs Mutter leise. Natürlich lässt es sie nicht kalt. Sie ist nicht herzlos. Ich nicke, unfähig ein Wort herauszubringen. Sie zögert, dann fragt sie noch: «Weisst du, wo die St. Bernhardstrasse ist?» Ich deute nach rechts. «Gerade aus, bis zum H&M, dann nach rechts.» Meine Stimme ist heiser und leise. Sie nickt und dann umarmt sie mich unerwartet. «Machs gut.», flüstert sie in mein Ohr, dann lässt sie mich schon wieder los. Ohne ein weiteres Wort eilt sie in die Richtung davon, die ich ihr eben gezeigt habe. Ich bleibe reglos stehen und sehe ihr nach. Als sie um eine Ecke verschwindet, verschwindet auch das letzte Stück der Bartras aus meiner Welt. Ich wünschte, es wäre einfacher loszulassen.

Nach einer Ewigkeit drehe ich mich um und gehe in die Richtung zurück, aus der ich gekommen bin. Ich weine nicht, aber ich fühle mich, als wäre ich auf einem Trauermarsch. Mir ist vollkommen bewusst, dass ich ihn gerade verloren habe. Er wird sich nicht an mich erinnern und ich werde nie die Chance bekommen, ihn an mich zu erinnern. Ihn dazu zu bekommen, sich wieder in mich zu verlieben. Vielleicht ist es das Beste, aber es fühlt sich nicht so an. Wie kann sich das «Beste» so trostlos und schrecklich anfühlen? Warum können wir kein Happyend bekommen? Ich trauere um den besten Freund, den ich je haben konnte. Um den Marc, in den ich mich haltlos verliebt habe. Der Mensch, der mir gezeigt hat, wie toll und einfach die Welt sein kann. Und trotz allem bin ich glücklich, dass ich die Möglichkeit hatte, so etwas zu erleben. Ich habe das Gefühl, dass, solange ich mich an ihn erinnere, diese Momente noch existieren. Nur weil er sich nicht mehr an unsere Zeit erinnern kann, heisst das noch lange nicht, dass auch ich sie vergessen muss. Und das werde ich nie, das verspreche ich mir selber.

Als ich nach Hause komme, gehe ich zu meinem Bruder, der mitten im Wohnzimmer steht, seinen Kopf in den Händen vergraben. Ich weiss sofort, was los ist. Ohne zu zögern, schlinge ich meine Arme um ihn und drücke ihn an mich. «Du wirst jemand anderes treffen, jemanden, der dich richtig und mit allem was er hat, liebt.», flüstere ich. Er drückt sein Gesicht in meine Haare, sein Atem geht unregelmässig. «Ich weiss. Es ist nur... es ist so schwer loszulassen, auch wenn wir schon so lange nicht mehr richtig zusammen sind.» Ich nicke. «Ich weiss.» Er schling seine Arme ebenfalls fest um mich und wir halten uns. Auch wenn die Welt untergeht, am Ende haben wir ja noch unsere Familie. Sie sind diejenigen, die immer für uns da sind. «Wir werden okay sein.», hauche ich leise. Ich brauche meinem Bruder nicht zu erklären, dass ich mit jemandem von Marcs Familie geredet habe und dass dieses Kapitel zu Ende ist. Er scheint es einfach schon so zu wissen. «Neustart?», fragt er mich leise. Ich nicke. Wir wissen beide, dass es noch eine Zeit lang gehen wird, bis wir wieder «okay» sein werden. Aber das hier ist schon einmal ein Anfang.

Als ich später alleine bin, flüstere ich leise in mein leeres Zimmer: «Ich habe dich geliebt, Marc Bartra.» Ich sehe zu dem Foto von uns beiden an der Wand. Und statt in Tränen auszubrechen, kann ich lächeln. Zwar ein trauriges Lächeln, aber wie gesagt. Es ist ein Anfang. Und alles braucht seine Zeit.

el cariño [Marc Bartra]Where stories live. Discover now