Kapitel 4

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„So, da wollen wir mal.", sagt der Arzt und fängt an, mir den Verband von der Schulter zu nehmen. 

Meine Gefühle sind an diesem Tag gemischt. Seit einer Woche gehe ich schon wieder in die Schule und es hat sich als schwierig herausgestellt. Ich muss, sobald ich wieder schreiben kann, eine Menge Tests nachholen. Ich würde wahrscheinlich alle verhauen, aber Annie hat versprochen, mir zu helfen. 

Heute ist aber erst einmal die Nachuntersuchung. Ich werde zum ersten Mal den Stumpf komplett sehen, bisher ist er immer verhüllt gewesen. Vorsichtig wickelt Dr. Wilson, mein behandelnder Arzt, eine Schicht Verband nach der Anderen ab. Dann ist er fertig. Die ganze Zeit habe ich Annabeths Hand gehalten. Als ich sie fragte, ob sie heute mitkommen will, hat sie sofort ja gesagt. Meine Eltern haben auch angeboten mich zu begleiten, doch ich habe abgelehnt. 

„Ich lasse Ihnen beiden ein paar Minuten."

Mit diesen Worten verschwindet Dr. Wilson aus dem Zimmer. Vorsichtig gehe ich auf den Spiegel, der an der einen Wand hängt, zu. Ich fürchte mich vor dem Anblick, der sich mir gleich bieten wird. Dann mache ich einen Schritt vorwärts und blicke in den Spiegel. Zuerst sehe ich mein Gesicht an. Die Angst leuchtet in meinen Augen. Ich lasse meinen Blick zur rechten Schulter wandern. 

Ich dachte, ich wäre auf diesen Anblick vorbereitet, aber das bin nicht. Die Tränen steigen in meine Augen, als ich den Stumpf betrachte. Annie tritt hinter mich und erwidert meinen Blick im Glas. Auch ihre Augen schimmern verdächtig.  

„Ich dachte, ich wäre vorbereitet, aber es jetzt so zu sehen...", meine Stimme bricht. 

„Ich weiß.", erwidert sie.  „Aber wir werden das schaffen. Das verspreche ich dir."


Später fährt sie mich nach Hause. Ich verabschiede mich im Auto von ihr und steige aus. Im Haus wartet meine Mom bereits auf mich. 

„Wie war es?", fragt sie. Als Antwort zeige ich ihr den Stumpf. 

„Dr. Wilson hat gesagt, dass ich jetzt wieder alles machen darf.", sage ich betont heiter. 

Meine Mutter lächelt. „Ich bin so stolz auf dich, weil du dich nicht unterkriegen lässt und du so gut damit umgehst. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte."

Sie sieht aus, als würde sie gleich weinen. Ich gehe zu ihr und nehme sie in den Arm. Ich habe noch gar nicht daran gedacht, wie es für meine Mutter sein muss und wie sehr sie darunter leidet. Jetzt sehe ich es. 

„Nicht weinen, Mom. Mir geht es gut."

Unbeholfen streichle ich ihren Rücken. Sie beruhigt sich wieder und wir setzten uns an den Tisch. 

„Wann kommt Paul zurück?", frage ich sie. Paul ist Lehrer an einer Grundschule. Er müsste also bald heimkommen. 

„Er hat noch eine Besprechung, aber er hat gesagt, dass er in einer halben Stunde da ist." 

Das ist gut, denn ich will unbedingt mit ihm sprechen. 

„Ruf mich, wenn er da ist. So lange übe ich schreiben."

Mit diesen Worten gehe ich auf mein Zimmer.


Wie meine Mom sagte, ist Paul dreißig Minuten später da. Ich gehe wieder in die Küche und begrüße ihn. 

„Ähm, Paul, kann ich kurz mit dir sprechen?", frage ich ihn dann vorsichtig. Er sieht leicht erstaunt aus, folgt mir aber in den Garten. Wir setzten uns auf die Stühle. 

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