Kapitel 82

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Einige Tage waren vergangen seitdem Chrystal wusste, wo sie stand. Am nächsten Tag würden sie aufbrechen und bis zum Abendessen musste ihre Tasche gepackt sein. Viel durfte sie nicht mitnehmen, wozu auch? Sie würde ohnehin eine Uniform oder einen Kittel tragen müssen. Nur einige persönliche Dinge landeten im Rucksack und immer wieder herrschte sie ihre Schwester an sich zusammen zu reißen.

„Meine Güte Carma, wir haben das doch jetzt schon tausend Mal durch: Mir wird nichts passieren und du wartest hier auf mich.“ Carma schluckte schwer, doch der Kloß in ihrer Kehle löste sich nicht so leicht. Seufzend gab Chrystal auf und nahm ihren Zwilling in die Arme. Sie selbst hatte sich verboten zu weinen, Emotionen zuzulassen, schwach zu sein. Sie war stark, sehr stark. Das Abendbrot viel reichhaltig aus. Man kam sich ein bisschen vor wie beim letzten Mahl und irgendwie war es ja auch so. Wer weiß, was noch alles geschehen würde? Trotz der Köstlichkeiten, die ihnen zuvor immer verwährt worden waren, sprachen sie nicht viel und keiner konnte sich wirklich freuen. Keiner von ihnen ahnte auch nur, dass es in den beiden weiteren Häusern genau so zuging. Sie legten sich alle früh schlafen und wurden noch vor dem Morgengrauen geweckt. Draußen war es bitterkalt und somit hüllte sich jeder in viele Lagen Kleidung. Ein Frühstück gab es nicht. Master Phil empfing sie am Ein-, beziehungsweise Ausgang. Er würde hier bleiben und nur bei Bedarf nachreisen.

„Eure Wagen fahren gleich vor“, brummte er und obwohl er leise sprach, überhörte kein einziger der Angetretenen. Und unter denen waren nicht nur die, die an die Front mussten, sondern auch alle Zurückbleibenden. Carma klammerte sich an die Hand ihrer Schwester, die mit gepacktem Rücksack tief durchatmete, um nicht durchzudrehen.

„Passt auf euch auf und denkt dran: Ihr seid nicht dafür da, irgendjemandem weh zu tun oder selbst verletzt zu werden.“ Und obwohl die meisten das noch nicht verstanden – warum auch sollten sie wen angreifen? - nickten sie stumm und Master Phil öffnete die großen Schwingtüren. Er wies mit dem Kinn nach draußen und die Massen flossen ins Freie. Einige drückten ihn zum Abschied, anderen klopfte er auf die Schulter. Aber kein einziger blieb unbeachtet. Chrystal war eine von denen, die er in seine großen Arme Schloss. Seine Brust bebte kurz und erst begriff Chrys nicht. Erst als er ein Schluchzen unterdrückte, schob sie ihn von sich, um sein Gesicht betrachten zu können.

„Du weißt Bescheid, nicht?“, flüsterte er mehr oder minder leise. Chrys nickte kurz, irgendwie wusste sie es ja wirklich.

„Dass 's so weit kommt, hätte ich nicht gedacht“, gab Phil zu und Chrystal beobachtete das Glitzern in seinen Augen.

„Du kommst wieder, verstanden?“ Es war viel mehr eine Feststellung.

„Ich komme wieder.“ Er nickte den Tränen nahe und Carma drängte ihre Schwester, da schon alle draußen waren.

„Wieso machst du da mit?“, fragte Chrys noch zum Schluss und es war das erste Mal, dass sie ihren Master duzte. Jetzt gab es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen, er war nicht länger ihre Aufsichts- und Ausbildungsperson. Er war ihr Freund.

„Sie haben meine Tochter mit reingezogen. Glaub nich', dass ich den Tod fürchte, Chrystal Cadence, aber der meiner Tochter wäre für mich unverzeihlich.“ Und Chrystal verstand ihn. Sie drückte ihn einen kleinen Kuss auf die Wange und stellte fest, dass sie ihm noch nie so nahe stand.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt