Kapitel 71

3.7K 317 18
                                    

Die große Halle füllte sich langsam. Massen an Schülern strömten an den Eingängen herein und suchten sich eine Sitzmöglichkeit. Die aufgeräumten Arbeitstische wurden zu Bänken umfunktioniert und einige, die später kamen als die anderen, setzten sich auf die Heizungen. Dabei jedoch stets darauf achtend, sich nicht den Hintern zu verbrennen, gehörten auch Carma und Chrystal zu ihnen. Chrys, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun die Finger oder das Gesäß zu überhitzen riskieren konnte, schob immer wieder ihre Handflächen zwischen Sitzfläche und Heizung. Carma schien das alles nicht zu stören, ihre Gedanken waren bei der Axt, die sie vorhin nicht hatte fertigstellen können. Normalerweise hätte sie einfach länger als die anderen bleiben können und ihre Arbeit beenden können, doch heute wurden sie alle zu einer wichtigen Versammlung einberufen und ein dicker Junge machte sich auf ihrem Arbeitstisch breit. Es dauerte noch einige weitere Minuten, bis endlich Meister Phil kam. Durch seine mächtige Statur fiel er in der Menge auf und musste sich nicht mal auf eine Art Podium stellen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein einfaches Räupern reichte vollkommen aus. Er sah nicht glücklich aus, die Mundwinkel herab gezogen und die Schultern nicht so straff wie sonst. Chrys und Carma wussten, was nun kommen würde. Nach dem belauschten Gespräch, hatte Chrys ihrem Zwilling alles erzählt. Sie waren im Bilde, sie konnten jetzt nur noch hoffen und lauschen.

„Kinder“, begann Meister Phil und wischte sich über die Stirn. Er fühlte sich sichtlich unwohl und seufzte leise auf.

„Ich muss euch nicht erzählen, warum ihr heute alle hier her kommen solltet. Ich weiß, ihr seid alle unglaublich clever, ihr wisst ja schon längst Bescheid.“

Er schluckte schwer und zog einen Zettel aus seiner Hosentasche. Es schien eine Kopie einer wichtigen Unterlage zu sein.

„Deswegen mach' ich 's kurz und schmerzlos. Mit an die Front beim Kampf...“ Er zögerte kurz, das Folgende schien für ihn schwer auszusprechen zu sein.

„...für den König kommen: Lindsay Beckett,...“

Er zählte die Namen langsam auf, es waren um die fünfzig. Chrystal und Carma umklammerten ihre Finger und hielten den Atem an. Meister Phil wurde immer leiser, er kündigte das Ende an. Die bereits Besagten starrten still zu Boden, als hofften sie damit ihrem Schicksal entkommen zu können. Und dann, dann traf genau das ein, was niemals hätte geschehen dürfen. Als der Name ihrer Schwester erklang, schrie Carma laut auf. Sie zog sie nah zu sich heran und drückte ihren Kopf an die Brust. Ozeane brachen aus, wie ein instabiler Staudamm und Chrys, die schwieg einfach nur. In den Armen ihrer Schwester. Denn sie war die letzte, deren Namen Meister Phil sagte.

Der Tag war nun tatsächlich angebrochen und mittlerweile fuhr Chloe den Transporter die Autobahn entlang. Hailey saß auf dem Beifahrersitz und hatte die Beine auf die Amatur gelegt und Ava hatte sich im hinteren Teil des Transporters ein notdürftiges Lager aufgebaut, auf dem sie ein wenig schlief. Oder es zumindest versuchte. Chloe fuhr nicht schlecht, nein, aber sie schaffte es aus unerfindlichen Gründen auf der eigentlich ebenmäßigen Straße jedes noch so kleine Schlagloch mitzunehmen. Sie hatte nur Glück, dass dabei noch nichts zu Bruch gegangen war. Hailey presste die Arme an den Körper und ihr Magen knurrte.

„Weißt du, was mich ankotzt?“, fragte sie plötzlich.

„Dass die uns nicht einfach vorher Bescheid gesagt haben. Dann hätte ich wenigstens Geld einpacken können, bevor sie mich abgeholt haben. Oder vielleicht andere Sachen, die wichtig sind. Aber jetzt? Jetzt sitzen wir in irgendeinem Transporter von irgendwelchen Psychos und können uns nicht mal an der Tanke 'n Brötchen holen“, schimpfte sie. Chloe lachte leise auf.

„Ich hab vorhin noch ein bisschen was mitgehen lassen, als du und Adam deine Klamotten geholt habt. Ist in meiner Tasche“, schmunzelte sie und Hailey stürzte sich auf den blauen Stoffbeutel, der von allen dreien die Reisetasche darstellte. Ursprünglich waren die für ihre Sportsachen gedacht gewesen und dass sie nun Teil ihrer Flucht waren, provozierte schon ein wenig. Hailey fand auf Anhieb etwas Brot, die Schokolade würden sie sich aufheben. Sie teilte sie für sich und ihre Freundinnen in drei Stücke und aß ihres in wenigen Bissen auf.

„Verdammt, das wollte ich mir einteilen“, brummte sie und reichte Chloe ihres. Die stellte sich wesentlich schlauer an und knabberte nur die Kruste ab, um den Rest in ihre Jackentasche für später zu stopfen.

„Leg Ava' s ins Handschuhfach“, murmelte sie noch und konzentrierte sich wieder unnützerweise auf die ausgestorbene Straße. Hin und wieder kamen sie an blauen Schildern vorbei, auf denen in weißer Schrift die Namen von Städten und ihre Entfernung in Kilometern durchgestrichen waren. Es gab sie nicht mehr. Nur noch wenige Leute lebten heutzutage außerhalb des Zentrums. Sie waren entweder geflüchtet um sich und ihre Kinder zu schützen, oder sie waren zu spät gekommen. Mittlerweile war Hailey sich fast sicher, dass die beraubten Eltern allesamt ermordet worden waren. Nur noch ein kleiner Teil, ein Schimmer Hoffnung in ihr glaubte nicht daran, denn das würde heißen, dass auch ihre Mutter und ihr Vater tot wären. Mar' s Mutter war tot, Chloe' s Mutter war tot. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie nun auch Waise war. Irgendwann, würde sie Gewissheit haben, doch der Zeitpunkt war noch nicht erreicht. Und daher versuchte sie sich nun abzulenken.

„Glaubst du sie haben es geschafft?“, warf sie in die Fahrerkabine herein. Chloe musste nicht nachfragen, sie wusste, was ihre Freundin meinte.

„Sie haben Lauren bestimmt versucht rüber zu werfen. Er ist am leichtesten und sie können manchmal ganz schön bescheuert sein.“ Damit antwortete sie nicht auf die Frage, aber Hailey lachte dennoch. Wie richtig sie damit lag, wusste ja keiner von beiden.

„Und wenn sie es nicht gepackt haben?“ Hailey schüttelte den Kopf, als würde ihre eigene Frage sie entsetzen. Normalerweise hätte sie jetzt wohl angefangen zu weinen, doch komischerweise ammüsierte sie der Gedanke, dass sie Glück und die Jungs Pech hatten. Sehr sogar.

„Wer weiß, vielleicht strippen sie ja für die Wachsoldaten und als Gegenleistung kommen sie dafür wieder rein.“

Fast hätten beide angefangen zu lachen, wäre nicht ein absolut schreckliches Geräusch erklungen. Ein Geräusch, von dem beide wussten, dass sie es früher oder später hören würden müssten. Und doch erschraken sie, als der Wagen ruckelte, ein fast schmerzerfülltes Stöhnen von sich gab und mitten auf der Autobahn stehen blieb. Sie waren noch mehrere hundert Meilen vom Zentrum entfernt und jetzt, genau jetzt ging ihnen der Sprit aus.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt