Kapitel 5

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5.

Als der Tag anbrach wurde Hailey von den Schmerzen in ihren Beinen wach. Sie stöhnte leise auf. Mar schlüpfte gerade in ihre Jogginghose. „Was ist los?“, flüsterte sie, was relativ unsinnig war, da sie ja nicht noch eine Mitbewohnerin hatten. Hailey antwortete nicht. Sie wollte nicht schwach wirken, dafür hatte sie noch zu großen Respekt vor Mar. „Tut es weh?“, fragte die jedoch völlig unerwartet und kam zu ihr. Während sie sich die Haare zusammenband setzte sie sich auf Hailey‘ s Bettkante. Sie zog die Decke beiseite und betrachtete den Verband. Im nächsten Moment schrie Hailey laut auf. Ihr Verband war zersetzt von Blut und dicke Würmer fraßen sich durch Knochen und fauliges Fleisch. Um sie herum hämmerten laute Beats und sie hielt sich nach Luft ringend die Ohren zu. „Hailey, Hailey beruhig dich! Es ist alles okay!“, versuchte Mar sie zu beruhigen, doch Hailey hörte ihr nicht zu. „Das sind die Drogen, die sie dir geben! Es ist bestimmt gleich vorbei!“ Und während sie das sagte wurde sie furchtbar wütend. Anfangs hatte sie Hailey für ein blasiertes Stadtmädchen aus gutem Hause gehalten, doch nun hatte sie angefangen, sie zu mögen. Und Menschen die Mar etwas bedeuteten hatten durch nichts und niemanden Leid zu erfahren. Und so sprang sie auf und rannte aus dem Zimmer. Wie in Lichtgeschwindigkeit flog sie fast den Flur entlang, bis sie an der Krankenstation angelangt war. Wie ein wild gewordener Löwe hämmerte sie gegen das Schwesternzimmer. Ihre roten Locken waren wie ein loderndes Feuer, das ihr Gesicht zu verzehren drohte. Viel zu langsam für Mar hörte sie die Absätze der Schwestern auf dem Linoleum des Zimmers klappern. Wütend holte sie Anlauf und trat die Tür ein. Die Schwester konnte nur noch kreischend zur Seite springen. „Maryann, was fällt dir ein?“, quiekte sie und nervöse Röte stieg in ihre pausbäckigen Backen. „Sie!“, knurrte Mar und presste ihren Finger auf die Brust der kräftigen Krankenschwester. „Sie sind Schuld, dass es Hailey schlecht geht! Sie hat Angst und hat Halluzinationen! Wegen ihren scheiß Drogen!“ Die Schwester realisierte langsam. „Wo ist sie?“ Mar lachte. „Im Zimmer! Wo sonst? Wegen dieser beschissenen Anstalt kann sie nicht laufen und liegt schreiend in ihrem Bett.“ Und dann zählte ihre Wut nicht mehr. Ihr auflodernder Zorn erlischte in einem kühlen Wasserfall und sie eilten zurück zum Zimmer. Diesmal allerdings deutlich langsamer, da die sportliche Löwin nun auf einen untrainierten Hamster mit Pausbacken warten musste. Als sie endlich am Zimmer angelangt waren lag Hailey immer noch vor größter Angst kreischend im Bett und schlug sich immer wieder auf den Gips. Mar hockte sich neben sie und die Schwester redete auf Hailey ein. Als noch mehr Krankenschwestern und ein Arzt zu ihnen kamen forderten sie Mar auf, das Zimmer zu verlassen. „Vergiss es du Mistkerl! Du machst sie doch nur nochmal richtig high wenn ich weg bin, damit sie die Klappe hält! Das kannst du vergessen. Sie ist ein Mensch, sie hat ihre Rechte und ich werde darauf achten, dass ihr Dreckssäcke sie nicht verletzt! Ich werde…“, doch ehe Mar ihren brennenden Schwall aus Worten beenden konnte, kamen in blau gekleidete, kräftige Krieger herein. „Schafft sie hier raus und stellt sie ruhig, bis sie runtergekommen ist!“ Mar lachte laut und zornig auf. „Vergesst es!“, zischte sie und konnte die ersten Uniformierten auch noch abhalten, doch dann konnte einer sie um die Hüfte ergreifen und trug sie hinaus. Mar trat wild um sich und war wütend, weil keine Menschenseele auf dem Flur stand und ihr half, doch zwei weitere Krieger packten ihre Arme und Beine und schleppten sie auf die Krankenstation. Alle Türen waren fest verschlossen und Mar wurde in einen Raum bugsiert, den sie noch nie gesehen hatte. An der Tür stand „Eintreten nur Befugten gewährt“ und im Inneren glich er einer Folterkammer. Sie war sich nicht sicher, ob sie träumte, oder nicht, als sie auf einem Patientenstuhl festgeschnallt wurde. Das Ganze glich einer unwirklichen Zweitwelt. Eine düstere Welt hinter der stolzen Fassade des Resistentia-Ordens. Dem Orden mit dem R, der stets vorgab gegen die neue Macht und für den alten König zu sein. Dem Vorzeigevermächtnis. Doch das hier war keineswegs dafür bestimmt an die Öffentlichkeit zu gelangen. Mar wusste was nun kommen würde und versuchte sich den Raum so gut wie möglich einzuprägen. Denn sie behielt mit ihrer Vermutung Recht, wie sie einsehen musste, als man ihr eine Spritze an den Hals legte und sie spürte, wie die Ränder ihres Blickfeldes verschwammen.

Als Mar wieder aufwachte, lag sie in ihrem Bett. Langsam setzte sie sich auf und spürte, wie jeder einzelne Muskel ihres Körpers sich streckte. Eine Weile starrte sie ihre Finger an, bis ihr einfiel, was ihr gestern oder wann auch immer wiederfahren war. Ruckartig riss sie den Kopf herum und erblickte Hailey Rose, die friedlich in ihrem Bett schlief. Es schien ihr besser zu gehen. Was die ihr wohl gepumpt haben?, fragte sich Mar, doch sie ließ sich nicht viel Zeit darüber nachzudenken und stand auf. Sie musste den Kopf freikriegen. Den kühlen Herbstwind ihre Haare durchfahren fühlen und den verräterischen Geschmack des Internates auf der Haut kribbeln spüren. Und so ging sie an ihren Schrank und schlüpfte in ihre Sportsachen. Leise schloss sie hinter sich die Tür und beschloss heute mal ohne Kopfhörer loszuziehen. Den langen Flur und die Treppe herab erreichte sie schließlich die Tür nach draußen. Und dann gab sie sich der Natur, der Einsamkeit und ihren Sorgen hin und rannte und rannte und rannte.

Mit brennenden Wangen und einer eisigen Lunge erreichte Mar schließlich wieder das Internatsgebäude nach einer ausgiebigen Morgenrunde. Sie hatte lange überlegt und die Zeit war dabei wie im Fluge vergangen. Wenn sie so Recht nachdachte viel ihr auf, dass sie nicht mal mehr wusste welchen Weg sie gelaufen war. Sie wusste nur noch, dass sie über Hailey nachgedacht hatte. Über ihre Halluzinationen und ihre unsagbar schmerzerfüllten Schreie. Sie wusste noch, dass sie Hilfe geholt hatte und am Ende in einer Art verrücktem Science-Fiction-Labor betäubt wurde. Nur konnte sie sich auch dabei nicht erinnern, wann das ganze geschehen war. Es musste morgens gewesen sein, ja, aber mehr wusste sie nicht. Und jetzt war auch wieder ein Morgen. Kurz vor sieben Uhr um genau zu sein. Das heißt, die schreckliche Szenerie hatte sich gestern abgespielt. Verschwitzt ging sie zu ihrem Zimmer und trat ein. Hailey war mittlerweile wach und saß vor ihrem Kleiderschrank. „Was machst du denn da? Du sollst doch bestimmt noch nicht aufstehen.“ Hailey grinste. „Wieso, mir geht’s doch gut. Amelia war schon da und eine Krankenschwester und die meinten, ich kann morgen oder übermorgen schon wieder laufen!“ Mar konnte es nicht fassen. Sie begann zu zittern und ihre Knie gaben nach. „Haben sie dich so schnell unverwundbar gemacht? Mein Gott Hailey, gestern noch hattest du unglaubliche Schmerzen und hast den Tod oder sonst was gesehen und heute bist du schon fast wieder gesund? Die haben deine Verletzung ausgenutzt und dich mit ihren scheiß Drogen vollgebummert.“ Hailey runzelte die Stirn. „Gestern?“ Mar nickte immer und immer wieder. „Gestern lagst du schreiend im Bett, Hailey!“ Doch Hailey schien davon nichts zu wissen und schüttelte den Kopf. „Das musst du geträumt haben. Mir geht’s gut, Mar, wirklich!“ Fassungslos schüttelte Mar den Kopf. „Nein, nein das habe ich nicht geträumt. Was ist los mit dir? Wie kannst du dich nur nicht daran erinnern?“ Und dann schien die Lösung in Mar‘ s Händen zu liegen, wie ein offenes Buch. „Die haben dir wieder irgendwas gepumpt, hä? Dein Gedächtnis ausgelöscht!“ Hailey‘ s Fragezeichen auf der Stirn wurden immer größer. Mar schien es ernst zu meinen. Ihr Traum musste ziemlich realistisch gewesen sein. „Mar ernsthaft! Es war nichts!“ Doch das akzeptierte die Löwin nicht und sprang auf. Kurzerhand hob sie Hailey unter lautem Protest hoch und setzte sie in ihren Rollstuhl. „Mar, was soll das? Ich hab noch nicht mal was an!“ Doch das interessierte sie nicht und sie warf eine Decke über Hailey‘ s nur von weißer Spitze bedeckten Körper. Wie ein flammender Blitz schob sie Hailey aus dem Zimmer und zur Krankenstation. „Die haben mich von dir weggezerrt, Hailey. Hörst du? Die Scheißkerle wollten mit dir alleine sein, damit sie dich ungestört gefügig machen können. Die haben mich betäubt, verstehst du?“ Und ohne auf die Krankenschwestern zu achten, die bei Mar‘ s lauter Wutparade auf den Flur kamen steuerte sie auf die Tür mit dem „Eintreten nur Befugten gewährt“-Schild zu. Das Schloss war verriegelt, doch ein einfaches Stück Metall konnte die Löwin nicht abhalten. Mit einem kräftigen Tritt öffnete sie die Tür, doch was für ein Anblick sich ihr dann bot raubte ihr jegliche Geistesgegenwärtigkeit und Vertrauen in die eigene Zuverlässigkeit. Eine simple Abstellkammer tat sich vor den beiden auf. Kein gruseliger Patientenstuhl. Keine Spritzen, keine psychomäßigen Geräte, nichts. Nur Besenstiele und Wischmöppe. Eine Hand legte sich auf Mar‘ s Schulter. „Ich glaube es ist besser, wenn du und Hailey jetzt auf euer Zimmer geht und euch für das Frühstück fertig macht. Du scheinst wohl einen sehr lebhaften Traum gehabt zu haben.“ Und Mar war so geschockt und kampfunfähig, dass sie einmal tat, was man ihr sagte.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt