Zerbrochen

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In dem Moment in dem das Lied und seine Stimme verstummten, verlor ich auch das Gefühl der Nähe zu ihm. Seine Stimme durchbrach zwar den winzigen Widerstand und ließ die damit verbundene Trauer förmlich aus mir heraussprudeln, aber dennoch erwärmte sie mein Herz und ließ mich an all die schönen Erinnerungen zurückdenken, die wir durchlebt hatten.
Es tat weh daran zu denken, aber es tat auch gut, nach etwas greifen zu können, sich an etwas festzuhalten.
Nun hallte seine Stimme lediglich leise und schwach in meinem Kopf wieder, ehe ich sie auch schon nicht mehr länger festigen konnte. Wo warst du nur hin?
Verschleiert nahm ich wahr, wie wir nun in die Hauptstraße der großen Metropolen Stadt einfuhren und auch keine zwei Minuten später wieder anhielten. Wie nicht anders zu erwarten, fanden wir uns in einem großen Stau wieder. Üblich für diese Uhrzeit.
Normalerweise war ich ja ein sehr geduldiger Mensch, jedoch war dies keine normale Situation und ich keineswegs in einem normalen Zustand, weshalb meinen Körper eine Art elektrisierende Nervosität durchströmte, die immer größer wurde.
Der Taxifahrer ließ sich durch den Stau nicht aus der Ruhe bringen, saß ganz friedlich und ruhig auf dem Fahrersitz und wartete geduldig, während ich anfing innerlich zu schreien.
Auf einmal hatte mich das Gefühl der Trauer und der Hilflosigkeit wieder voll und ganz verschlungen. Als sei das nicht genug, erfasste mich nun auch ein harter Schwindelanfall.
Langsam begann ich zu glauben, dass das Leben mich mit Absicht so auf die Folter spannte und mir mit Absicht diese Schmerzen bereitete.
Unerträglich, es war einfach so unfassbar unerträglich!
Das Gefühl trieb mir die Tränen in die Augen und ich spürte das Entstehen eines fetten Kloßes im Hals, trotz meines eher schwachen Versuches dagegen anzukämpfen.
Mich dagegen zu wehren brachte nichts, sondern es verschlimmerte die ganze Situation vielmehr.
Lustig wie so eine unbedeutsame, alltägliche Situation einen so aus dem Konzept reißen konnte, einen regelrecht missbrauchte, sodass man nur noch zerstört auf dem Boden lag ohne auch nur ansatzweise etwas Dahingehendes getan zu haben.
Es war nur ein Stau.
Aber ein Stau der mich abhielt in seiner Nähe zu sein.
Wie ich mich fühlte?
Hilflos. Unfassbar hilflos. Wie ein Kleinkind, das ohne Hilfe einfach nicht klarzukommen schien, das emotional einfach komplett instabil war.
Mit seinem Tod fehlte mir nun ein Stück meines Herzen. War es einem Menschen überhaupt möglich ohne ein vollständiges Herz zu überleben?
Ich fasste mir panisch an den Hals, weil es sich so anfühlte, als würde mir jemand eine Schlinge um diesen binden. War dies die Antwort auf meine Frage?
Wenn ich jetzt sterben würde, würde ich noch nicht einmal einen einzigen Laut herausbekommen, so zugeschnürt fühlte ich mich.
Ich krallte meine Hände in den Stoff meiner Hose und kniff meine Augen zusammen. Es sollte aufhören, dieser elende Schmerz sollte endlich aufhören.
Würde es jemals aufhören?
Hat es bei dir jemals aufgehört?
Gab es Momente die nicht so wehtaten?
Ich schnappte mehrere Male notgedrungen nach Luft und blieb dabei natürlich nicht unentdeckt.
Ja, ich bin ein Mensch der sich noch nie für seine Gefühle geschämt hatte, doch in diesem Moment war das anders. Das Gefühl der Erbärmlichkeit zog sich durch meine Panikattacke und lähmte meinen ganzen Körper. Ich schämte mich, ja verdammt noch mal ich schämte mich dafür, dass ich so kleinlich war. Dafür, dass ich nicht stark sein konnte und auch dafür, dass ich ihn nicht retten konnte.
Da wir immer noch standen, was wir dem ganzen Stau zu verdanken hatten, drehte sich nun der Taxifahrer besorgt zu mir um. Er hatte aus Sorge das Fenster neben mir heruntergelassen, sodass ich nach frischer Luft schnappen hätte können, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre. Seine Hand fand sich auf meiner verkrampften Schulter wieder, drückte diese leicht und er versuchte, einen Blickkontakt mit mir aufzubauen. Allerdings merkte er sehr schnell, dass dies vergebens war, da ich überall hinschaute außer in seine Richtung. Ich wollte dieses zerstörerische Ereignis tief in meinem Herzen einschließen, sodass nicht jeder Fremde mir meine Trauer, Wut und Verzweiflung mit einem Schlag ansehen konnte.
Auch wenn dies keine böse Absicht war.
Die Flut an Gefühlen, Emotionen und Gedanken waren so unglaublich mächtig.
Dagegen fühlte ich mich ganz klein und zerbrechlich, sodass die Flut an Gefühlen mich beim ersten Versuch sofort mitriss. Nicht einmal der kleinste Widerstand war vorhanden.
Immer noch an Atemnot leidend, drehte ich meinen Kopf zum Fenster und versuchte qualvoll etwas frische Luft in meine Lungen zu bekommen, während die Tränen aus meinen Augen quollen und mein Körper erbärmlich anfing zu zittern.
Völlig in der Ekstase gefangen, bemerkte ich erst jetzt, dass der Taxifahrer an den Rand der Straße gefahren war und ich nun auf dem Bürgersteig einer befüllten Einkaufsstraße stand, als er mich mit einem Ruck aus dem Auto hochhievte.
„Versuchen Sie ganz ruhig ein und aus zu atmen!", wies er mich an und drückte dabei meine Schultern etwas nach hinten, sodass ich aufrecht stehen konnte. Gezwungenermaßen schaute ich in seine Augen und konnte seine ehrliche Besorgnis erkennen.
Kennt ihr das, wenn ihr versucht ein kleines Kind zu beruhigen, aber es euch einfach nicht sagen kann was los ist? Wenn es einfach nur dasteht, euch anschaut und bitterlich weint, sodass es euer Herz zerreißt?
Das war ich in diesem Augenblick. Ein kleines Kind, krampfhaft am Weinen und kein Wort von sich gebend. Ich bekam lediglich erstickende Krächzer heraus, was mit Sicherheit nicht schön anzuhören war.
Selbst wenn ich es gewollt hätte, selbst wenn ich hätte sagen können was mir fehlte. Es hätte doch sowieso nichts geändert, oder? Denn das was mir fehlt, bekam ich nicht wieder zurück.
Nie wieder.
Dann jedoch passierte etwas Merkwürdiges.
Ein Passant stieß mich beim Vorbeilaufen ziemlich heftig an, sodass ich benommen zur Seite taumelte, ja sogar fast hinfiel. Dieser drehte sich um, beugte sich leicht nach vorne, um mich um Verzeihung zu bitten und beim Aufrichten blickte er mir direkt in die Augen.
Und mit einem Mal hielt die Zeit für mich an. Ich konnte nicht viel von seinem Gesicht erkennen, da Nase und Mund mit einem Mundschutz bedeckt waren, aber was ich sah waren seine Augen. Nein, wirklich!
Es waren seine Augen. Sie waren so einzigartig, dass ich sie überall erkennen würde.
Die Iris in ein unglaublich dunkles Braun getunkt, sodass der Übergang von Iris zur Pupille nur beim genauen Hinsehen zu erkennen war und noch dazu dieser Blick. Träumerisch, liebevoll, einzigartig und doch gleichzeitig benetzt mit einer dünnen Tränenschicht. Dieser Blickaustausch hielt eine gefühlte Ewigkeit an und ich hätte alles dafür getan, diesen auch ewig beizubehalten.
Die Person jedoch begann sich umzudrehen und weiterzulaufen. Nein! Bitte nicht!
Ich streckte meine Hand nach ihm aus, doch er war schon zu weit entfernt, dass ich nach ihm hätte greifen können.
„Warte!"
Zu leise.
Erinnerungen flogen in rasanter Geschwindigkeit durch meinen Kopf, sodass ich mich nicht einmal auf eine einzige davon richtig konzentrieren konnte. Meine Gedanken drehten sich so stark, dass mich der Schwindel wiederergriffen. Mein Herz pochte so unglaublich und pumpte meinen Körper mit etlicher Hoffnung voll.
„Kannten Sie Ihn?", fragte eine Stimme neben mir, doch ich nahm sie nur dumpf war.
Ich muss ihm hinterher. Jetzt.
Erst jetzt spürte ich einen Widerstand, der allerdings nicht von meinem Körper ausging. Ich blickte mich um und entdeckten den Taxifahrer, der meine Handgelenk festhielt.
„Ich kann Sie in diesem Zustand nicht einfach alleine lassen.", erklärte er auf meinen fragenden Blick hin.
Während mein Blick panisch in die Richtung flog, in welche der Passant gelaufen war, fischte ich mein Geldbeutel heraus und überreicht ihm zwei 50000 Won Scheine, die ich schon im Flugzeug vorbereitet hatte.
„Fahren Sie vor.", waren die drei Worte, die ich schmerzhaft herauspresste, ehe ich auch schon in die Richtung des Passanten stürmte.
Ich musste noch einmal in diese Augen schauen. Ich war noch nicht bereit abzuschließen. Bitte. Nur noch einmal.
Orientierungslos rannte ich in die Menschenmassen hinein, lief gegen den Strom. Es war als würde ich fliegen.
Immer wieder schaute ich mich hektisch um auf der Suche nach ihm. Es waren seine Augen. Seine verdammten Augen! Er war es. Er musste es gewesen sein. Er war nicht Tod. Er durfte nicht Tod sein!
Ohne auch nur einen Stopp einzulegen, suchte ich weiter die befüllten Straßen ab in der Hoffnung, ihn irgendwo zu erblicken.
Doch je häufiger mir auffiel, dass mir die Straßen bekannt vorkamen, desto mehr ließ meine Hoffnung nach.
Aus dem Rennen wurde schnelles gehen, aus diesem wiederum wurde dann ein laufen, ehe ich nur noch langsam der Menge hinterher taumelte.
Nach und nach wurde mir bewusst, dass ich ihn verloren hatte. Und das nicht nur in der Menschenmenge. Ich fasste an die Stelle, an der mein erbärmliches Herz pochte. Es fühlte sich an, als würde es sterben.
Wie erbärmlich konnte man nur sein?! Ich würde noch verrückt werden.
Ich blieb abrupt stehen und griff verkrampft in den Stoff meines Oberteils. Mit der anderen Hand bedeckte ich meine Augen und weinte. Ich weinte so laut, wie es mir nur möglich war.
Ich konnte und wollte es nicht mehr zurückhalten.
„JONGHYUN!", schrie ich seinen Namen aus ganzem Herzen, den Kopf nach unten gesenkt und die Augen zusammengekniffen. Die Fäuste hatte ich geballt. Mein Herz raste. Ich raufte mir das Haar und stampfte mit dem Fuß auf. Es war mir egal, dass ich von Menschen angestarrt wurde. Ich wollte nur meinen Freund zurück, alles andere zählte in dem Augenblick nicht.
Nachdem ich alles herausließ und sein Name meine Lippen verließ, passierte es.
Ein Zucken durchzog meinen Körper, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Geräusch in meinen Ohren das mich in die Knie zwang. Das Geräusch war so schrill und unerträglich, dass ich mir ziemlich sicher war, mein Trommelfell würde platzen.
Ich krümmte mich auf den Boden und hielt mir qualvoll die Ohren zu, während mich hunderte von Menschen beäugten und in den ersten Sekunden nicht in der Lage waren mir zu helfen. Hunderte Menschen und keiner von ihnen war Jonghyun.
Eine letzte Träne bahnte sich den Weg aus meinem Auge, ehe alles schwarz vor diesen wurde.
Warum hast du dich nur umgebracht?

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⏰ Last updated: May 21, 2018 ⏰

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