Erinnerungen

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Es kommt nicht häufig vor. Ich meine diese Momente, in dem es einem äußerst miserabel geht und man einfach nur noch vor Schmerz schreien will. Wenn dieses Gefühl dich so einnimmt, dich in Besitz nimmt, sodass gefährlich schlimme Gedanken um dich herumkreisen, die normalerweise im Dunklen verborgen bleiben, dann solltest du wirklich schreien, so laut wie es nur geht. Das mich dieser Hilfeschrei nicht erreichte, oder dieser erst gar nicht versendet wurde, traf mich unglaublich hart. Es fühlte sich so an, als wäre man gleich zweimal von hinten erstochen worden. Doch ich konnte ihn nun verstehen. Verstehen warum er schwieg, statt zu schreien. Denn dieser seltene Moment, fand auch nun in meinem Leben platz und genoss es mir jegliche Kraft aus meinem Körper zu saugen, um mich unfähig zu machen. Unfähig bewusst zu handeln, schwach zu werden wie eine leere Hülle die lediglich von negativen Einflüssen geleitet ist. Es ist so als hätte er es mir mit seinem Abschied überreicht, eine Art Abschiedsgeschenk oder gar ein Erbe. Doch ihn sollte keineswegs die Schuld treffen. Immerhin sollte man bedenken, ob man nicht das gleiche getan hätte, wenn man in der Lage des anderen gewesen wäre.
Aber Dennoch.
Dennoch tat es weh, von ihm hier alleine zurück gelassen zu sein. Qualvoll hielt ich mir meine Finger an die Schläfen. Die Vene pochte mit einer enormen Gewalt und Geschwindigkeit gegen meine Finger. Gefühlt drohte sie zu platzen, doch das tat sie nicht.
Der auslösende Grund für diese qualvollen Schmerzen war unaussprechlich für mich. Allein wenn ich nur daran denke, was ich stets tue, schnürt es mir unerträglich die Luftröhre zu. So gesehen habe ich ununterbrochen keine Luft zum Atmen. Das Gefühl jeden einzelnen Moment ersticken zu können, machte mich wahnsinnig. Fühlt es sich so an innerlich Tod zu sein?
Sich mit Verlust auseinanderzusetzen ist unglaublich zerstörerisch. Und erst recht, wenn man diesen noch gar nicht realisieren kann und darauf hofft, dass alles nur ein wirklich schlimmer Alptraum ist.
Doch das war kein Alptraum, dass war die bittere Realität. Wie sollte man nur mit dem Tod umgehen, wenn man es noch nicht einmal selbst ist, der dem Tod ins Gesicht blickt? Was soll man tun, wenn man den Toten unbedingt in seinem Leben zurückhaben will? Zurückhaben muss?
Warum kann mir keiner sagen, was zu tun ist? Sag es mir doch, was soll ich tun?!
Ein nostalgisches Gefühl überkam mich und ein kurzer Hoffnungsschimmer blühte in mir auf, als ich die Erinnerung an ihn bewusst und lebendig in mir spürte. Was für eine Ironie.
„Tell me what to do." Sag mir was zu tun ist.
Ja, dass stammt eindeutig von ihm, ohne Frage. Es war eines seiner komponierten Lieder, die er als schrecklich empfand und verwarf. So wie er es mit sich selbst getan hatte. Verworfen.
Hastig wischte ich mir die Tränen von der glühenden Wange, die mich für kurze Zeit aus der düsteren Gedankenwelt entrissen. Ich bemerkte aus dem Augenwinkel zufällig, wie mein Sitznachbar mich komisch beäugte und drehte mich, so gut wie der Flugzeugstuhl mir es ermöglichte, von ihm weg.
Mit zusammengebissenen Zähnen, um ein schluchzen zu vermeiden, blickte ich aus den kleinen, runden Fenster und beobachtete wie wir der Stadt mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit immer näherkamen. Mit jedem Millimeter wurde mir schwindeliger. Aber mit jedem Millimeter wurde es mir auch klarer vor Augen.
Der Mensch, der einst wie eine Familie für mich war, wird nie wieder bei mir sein. Ich hatte ihn verloren. Für immer.
Das ironische an der ganzen Geschichte war, dass wir noch gestern miteinander sprachen und Pläne für die darauffolgende Woche gemacht haben. Er wollte zu mir nach Lissabon kommen, um mir bei meiner Arbeit zu helfen, doch jetzt musste ich zu ihm, um ihn für immer zu verabschieden. Dieses elendige Arschloch! Hätte er mit mir geredet, dann hätte ich.... Dann hätte ich...
Ich raufte mir die Haare und spürte einen leichten metallischen Geschmack auf der Zunge. Als ich über die offene Wunde an der Lippe leckte, durchzog mich ein stechender Schmerz, der mich aufzucken ließ. Mein glühender Kopf an der kalten Fensterscheibe gelehnt, lauschte ich der Stimme aus der Sprechanlage, die verkündete, dass wir in wenigen Minuten landen werden.
Nur noch wenige Minuten in denen ich Zeit hatte, um mich auf das, was mich draußen erwartete, vorzubereiten. Schnaubend schloss ich meine Augen, um ihnen ein wenig Dunkelheit zu gönnen.
Als ich sie das nächste Mal öffnete, vernahm ich zuerst eine schemenhafte Gestalt die neben mir stand. Erst langsam formte sich alles zusammen und ich blickte direkt in ein besorgtes Gesicht.
„Geht es Ihnen gut, Sir?", fragte die Person zum zugehörigen Gesicht und musterte mich durchgehend. Verwirrt schaute ich mich um und fasst mir an den schmerzenden Kopf, während ich langsam realisierte, dass ich mich immer noch in dem Flugzeug befand. „Wir sind schon gelandet?", fragte ich neben der Spur und mit brüchiger Stimme. Sie nickte und fragte ob sie einen Arzt verständigen sollte. Ich winkte lediglich ab und stand mit wackligen Beinen auf. Als ich an ihr vorbeilaufen wollte, knickten meine Beine ein und ich musste mich an der Stewardess, notgedrungen, festhalten.
„Sind Sie sicher, dass ich niemanden rufen soll?"
Ich schüttelte den Kopf und taumelte nun in Richtung Ausgang. Frische Luft! Ich brauche frische Luft!
Beim Verlassen des Flugzeuges, verging alles nur noch wie in Zeitlupe. Schleppend begab ich mich in den riesig großen Flughafen und drohte mich bei der Koffersuche selbst zu verlieren. Doch eine große Menschenmenge machte mich auf das Laufband aufmerksam, sodass ich ein Teil der Menge wurde. Während ich am Band stand, um meinen Koffer zu holen, war ich so in meiner Gedankenwelt gefesselt, dass ich gar nicht bemerkte, wie ich den falschen Koffer nahm und gehen wollte. Es hielt mich allerdings die Frau, der den Koffer gehörte, auf und wies mich freundlich darauf hin, dass ich ihren gerade in der Hand hielt. Perplex starrte ich sie an, während ich den Koffer abrupt losließ, so als hätte ich mich daran bitterlich verbrannt. Schnell senkte ich meinen Kopf und begab mich mit großen Schritten zum zweiten Mal ans Laufband.
Endlich, als ich den richtigen Koffer beim zweiten Versuch erwischte, konnte ich mich nach draußen an die frische Luft begeben. Doch der Wunsch, dass sie mir half wieder frei denken zu können, verflog so schnell wie er gekommen war. Um mir ein Taxi rufen zu können, holte ich mein Handy aus der Hosentasche und schaltete es an. Das führte allerdings dazu, dass ich eine gefühlte Ewigkeit nur auf das Display vor mir starrte und den Blick einfach nicht abwenden konnte.
Es befand sich das strahlende Gesicht von ihm darauf. Mit dem Blick zur Seite. Den neben ihm befand sich meine Wenigkeit, die lachend in die Kamera schaute und den Daumen hochhielt. Er schaute mich, mit einem unglaublich tollem lächeln an. So als wäre alles gut. Warst du hier wirklich so glücklich, oder hast du mir nur etwas vorgespielt? Hast du nur für das Foto so gelächelt, oder hast du mich immer so angeschaut?
Auf einmal fielen Wassertropfen auf das Display und ich schaute reflexartig nach oben, doch ich stand unter der Überdachung des Flughafens. Als ich wieder nach unten, auf das Display schaute, fielen weitere Tropfen nach unten, bis ich bemerkte, dass es meine Tränen waren, die mich glauben lassen das es regnen würde. Eilig wählte ich die Nummer einer Taxifirma und setzte mich kraftlos auf meinen Koffer. Ich bestellte mir mein Taxi, als sich eine freundliche Stimme meldete und legte nach der Bestätigung schnell wieder auf.
Mein Körper fing an zu zittern, ob das an der Kälte oder an meiner körperlichen Verfassung lag, konnte ich nicht genau sagen. Das ich mich aber unglaublich elendig fühlte, konnte man schon von weitem wahrscheinlich sehen.
Mit dem verstreichen der Zeit fuhr auch endlich das Taxi, dass ich bestellt hatte, in die Einfahrt und hielt neben dem Bürgersteig an. Der Taxifahrer stieg aus und lehnte sich, in Gedanken verloren, an das Auto und wartete. Er schien sehr unzufrieden und bedrückt zu sein. Was man an seinem traurigen aber gleichzeitig nachdenklichen Blick nur unschwer erkennen konnte. Gut gekleidete war der Mann auch nicht, aber wer erwartete das schon bei solch einer Arbeit. Immerhin verdienen Taxifahrer in der großen Metropole Seoul meist so wenig, dass es gerade einmal für die Miete reichte. Er schloss die Augen und umschloss seine Hand mit seiner anderen Hand und führte sie an seine Lippen. Kurz blinzelte er nach oben, ehe er sich wieder löste. Es sah so aus als hätte er gerade gebetet. Ein stummer Hilfeschrei? Auf einmal wurde ich durch seinen starken Hustenanfall aus meiner Gedankenwelt herausgezogen und beobachtete wie er seine Jacke enger um sich zog. Krank war er also auch noch. Ich seufzte. Er tat mir leid. Ich wollte gerade auf ihn zu gehen, als sich unsere Blicke trafen.
Mit einem Mal war das Traurige aus seinen Augen sofort verschwunden und er lächelte mich freundlich an.
„Sind Sie Herr Kim Kibum?", fragte er mit einer ziemlich rauen Stimme. Entweder war er Raucher oder hatte wirklich eine unglaublich starke Erkältung oder Entzündung im Hals. So perplex von dem Stimmungswechsel, der auch meine Trauer für einen kurzen Moment beiseiteschob, nickte ich nur benommen.
„Darf ich?", durchbrach er die anschleichende, unangenehme Stille und deutete auf den Koffer neben mir. Ich blickte nach unten, ehe sich eine Hand bereits um den Griff des Koffers umschloss und diesen hochhob. Mein Blick flog wieder in seine Richtung und ich brachte ein kratziges „Danke" heraus, wobei ich versuchte meine Mundwinkel nach oben zu ziehen. Allerdings bezweifelte ich es, dass es glaubwürdig bei ihm ankommen wird. Es ist eine Kunst seine Gefühle, so wie dieser Mann es tat, in sein Innerstes zu verschließen, wenn andere in der Nähe waren. Vielleicht beneidete ich ihm darum ja auch ein bisschen. Aber nicht nur das er seine Traurigkeit komplett beiseiteschob, nein, er strahlte auch förmlich! So als hätte er keine Sorgen und ist bedingungslos glücklich.
„Steigen Sie bitte ein!", forderte mich der Taxifahrer lächelnd an und deutete mit einer Handgeste zum Auto, ehe er selbst in das Fahrzeug einstieg.
Ich tat es ihm also gleich, setzte mich aber bewusst auf den Rücksitz, da ich direkten Kontakt vermeiden wollte. Als ich mich angeschnallt hatte und nach vorne blickte, sah ich einen kleinen Fotoanhänger, der an dem Rückspiegel befestigt war. Es schien sich hierbei um seine Familie zu handeln, den er hielt voller stolz einen kleinen Jungen auf dem Arm und ein etwas größeres Mädchen an der rechten Hand während seine Frau, so wie ich vermutete, auf der linken Seite steht.
„Meine Familie", bestätigte er meinen Verdachten und als ich seine Augen im Rückspiegel sehen konnte, entdeckte ich auch den kleinen Funkel Traurigkeit wieder. Man konnte es also doch nicht. Seine Gefühle einfach wegschließen, früher oder später würden sie ausbrechen, auch wenn es nur ein kleiner Funkel im Auge ist. Hm.
„Wo darf ich sie hinfahren?", unterbrach er die Stille und meinen Gedankengang. Ich schaute ihn kurz an, konnte seinem Blick im Rückspiegel allerdings keineswegs erwidern, da mich die Traurigkeit mit einem Schlag wieder zum Boden warf. Meinen Blick auf mein Fenster gerichtet, antwortete ich ihm leise. „Zum städtischen Krankenhaus, bitte."
Ohne ihn auch noch einmal anzuschauen, bemerkte ich wie er sich bewegte und nun das Auto zum fahren brachte.
Zurückgelehnt betrachtete ich stumm die vorbeiziehenden Bäume und Orte. Leise Musik spielte aus dem alten Radio des Taxis und machte es mir unglaublich schwer, meinen Tränen zurückzuhalten. Als dann allerdings seine Musik im Radio ansetzte und ich nach einigen Sekunden seine Stimme einsetzen hörte, konnte ich ihnen einfach nicht länger widerstehen. Egal wie hart ich es versuchte, ich war viel zu schwach und konnte meine Gefühle nicht einfach in eine Schublade schieben und gut war. Ich schaffte es nicht. Also entschied ich mich dazu, sie stumm weiterlaufen zulassen, mit Erinnerungen an diese engelsgleiche Stimme und diesen unvergänglichen Menschen.

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