Nicht wie die Anderen

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„Daddy, wir sind zu spät! Wir sollten schon seit fünf Minuten am Leicester Square sein", quengelte das elfjährige Mädchen mit den schwarzen Locken und hüpfte auf dem Beifahrersitz auf und ab.

Der Vater und seine Tochter waren nun schon über vier Stunden unterwegs und obgleich das junge Mädchen die meiste Zeit davon schlafend verbracht hatte, war es nun um knapp vor sieben Uhr morgens umso wacher und nervöser. Sie wollte endlich sehen, wo man mitten in London einen echten Zauberstab kaufen konnte und wie ein solcher aussah und vorallem, wie er funktionierte.

„Es tut mir leid, Aviana-Schatz, aber ich habe den Londoner Verkehr absolut nicht miteingerechnet. Wir brauchen lediglich noch einen Parkplatz, dann sind wir so gut wie da", gab der Schwarzhaarige ruhig zur Antwort. „Mister, wie hieß er noch gleich? Er wird bestimmt Verständnis haben."

Und genau daran zweifelte Aviana. Der junge Mann, den die beiden an besagtem Platz treffen sollten, hatte vor einem halben Jahr nicht den Eindruck gemacht, als würde er Verspätungen tolerieren. Er hatte zwar freundlich gewirkt, aber sie hatte auch eine gewisse Ernsthaftigkeit an ihm gesehen.

Konzentriert half das unruhige Nervenbündel also beim Ausschauhalten nach einer Parklücke und als das Mädchen eine eben solche nur fünf Meter entfernt zu ihrer Linken entdeckte, schrie es: „Da ist ein Parkplatz. Schnell Daddy!"

Ohne lange zu fackeln stellte der Vater den Blinker, und keine Sekunde nachdem der Motor aus war, sprang Aviana aus dem Auto und wollte losrennen, ehe Evan sie zurückrief: „Hey übereifrige Maus, lässt du deinen alten Mann alles selbst tragen?"

Hastig und Augen verdrehend riss sie eine ihrer Taschen aus dem Kofferraum und hing sie sich um die Schultern. Ihr Vater griff nach dem Rucksack und schloss mit einem Lächeln das Auto ab. Ungeduldig wurde er an seinem Arm gezogen, ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen kramte er nach dem Pergament in der Innentasche seines Jacketts. Seine Augen huschten über die Zeilen, während seine Tochter nervös von einem Fuß auf den anderen tippelte.

„Daddy! Komm schon!", maulte Aviana und zerrte erneut an seinem Arm.

Doch sie hätte gerade so gut an ihrem großen Kleiderschrank zu Hause rütteln können – ihr Vater blieb genauso standhaft. Liebevoll sah er seine Tochter an, ging vor ihr in die Hocke und nahm die kleinen Hände in seine.

„Maus, ich weiß, dass das hier alles unglaublich aufregend für dich ist. Aber bitte verstehe, dass ich noch immer versuche, meine Gedanken zu ordnen. Elf Jahre hatte ich dich bei mir und dachte nichts Schlimmes und dann erfahren wir eines Tages, dass du eine Hexe sein sollst. Ich weiß, du denkst wahrscheinlich, dass ich mich nach sechs Monaten damit abgefunden haben sollte und das habe ich bis zu einem gewissen Punkt. Ich habe akzeptiert, dass du außergewöhnlich bist, zumindest aus der Sicht eines Menschen, der der Zauberei nicht mächtig ist. Aber Schatz, der Gedanke, dass ich dich jetzt für zehn Monate gehen lassen muss, ist nicht einfach zu verdauen."

Die Ungeduld der Elfjährigen war verschwunden. An ihren Platz trat dank des bittenden Ausdrucks auf dem Gesicht ihres Vaters nun die Trauer, und dieselben Tränen, die in seinen Augen glitzerten, liefen ihre Wangen hinunter. Ihre Gedanken schweiften automatisch zu diesem einen grauen und verregneten Dienstag in Snowdonia, Wales.


„Was gibt es heute Abend zu essen?", fragte Aviana sicher schon zum zehnten Mal an diesem Abend und hüpfte neben ihrem Vater auf dem Sofa auf und ab.

„Ich dachte, dass wir uns eine Pizza liefern lassen und uns einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher machen. Was meinst du?"

Wie die meisten Kinder in ihrem Alter war auch Aviana sofort Feuer und Flamme für solch einen Plan und noch bevor ihr Vater beim Haustelefon angekommen war, saß sie bereits vor der Schublade mit all den Filmen, die sie besaßen.
Eine halbe Stunde später fläzten die beiden auf der Couch und lachten, als Rapunzel Flynn ein weiteres Mal die Pfanne über den Kopf zog.

Huffle-inWhere stories live. Discover now