Der Apfel

54 2 75
                                    

Hätte Aviana nicht gewusst, dass man Luft nicht schneiden konnte, dann hätte sie hier und jetzt versucht, mit einem Messer die Spannung im Schlafsaal zu durchbrechen. Zehn Minuten waren vergangen, seit sie die Frage gestellt hatte und seit zehn Minuten beobachtete sie den nervösen Blick ihrer Freundin.

Ihre unruhigen Augen huschten durch den Schlafsaal. Diese waren jedoch das Einzige an ihr, das sich bewegte. Merle lag so still, dass Aviana versucht war, sicherzugehen, dass sie tatsächlich noch atmete. Doch in der nächsten Sekunde holte sie tief Luft, sah zu Aviana hoch, nur um im nächsten Augenblick den Atem ungenutzt wieder auszustoßen.

Viermal wiederholte sie das, ehe Merle sich seufzend die Mütze vom Kopf zog und sich im Bett aufsetzte, sodass sie Aviana gegenübersaß. Als sie zu sprechen begann, schielte sie zum Fenster raus auf das in Mondlicht getauchte Schlossgelände und ließ dabei ihre Fingergelenke knacken – ein verräterisches Zeichen ihrer Angespanntheit.

„Fiona ist nicht meine leibliche Mutter."

Mehr als ein verwirrtes Blinzeln lag nicht drin, denn Merle hatte scheinbar Mut gefasst und Aviana musste sich konzentrieren, um keines der hastig ausgesprochenen Worte zu verpassen.

„Fiona ist meine Adoptivmutter. Genauso wie Bob mein Adoptivvater und Freddie mein Adoptivbruder ist. Fiona und Bob waren sofort zur Stelle, als meine Eltern ... nun, als mein Vater umkam und meine Mum sich nicht mehr um mich kümmern konnte. Fiona ist die Cousine meines leiblichen Vaters und für sie und Bob war es klar, dass sie mich aufnehmen und schließlich auch adoptieren würden. Sie waren von Anfang an offen und ehrlich mit mir und haben mir erklärt, dass sie mich zwar wie ihre eigene Tochter lieben, dass sie jedoch nicht meine leiblichen Eltern wären. Und als ich fünf war, sind sie mit mir ins St. Mungo gefahren. Seither gehe ich jedes Jahr mindestens zweimal hin."

Aviana war überfordert und wusste nicht, wo sie anknüpfen sollte, doch eines der Worte hallte in ihrem Kopf wider. St. Mungo. Dieses Wort hatte sie schonmal gehört. Anthony hatte es gebraucht. Weißt du, dass ich mich, sollte ich jemals Witze über deine Hautfarbe machen, glücklich schätzen kann, wenn ich im 4. Stock des St. Mungo's lande?

„Merle?"

Merle's bernstein-farbenen Augen trafen auf Aviana's schoko-farbenen und transportierten, ohne zu maskieren, die rohe Form von Schmerz und Trauer.

„Ich liebe meine Adoptivfamilie. Sie lieben mich und zeigen mir bei jeder Gelegenheit, dass ich voll und ganz zu ihnen gehöre ..."

Dunkler Bernstein verflüssigte sich und floss im nächsten Augenblick farblos über Merle's Wangen.

„... Aber das Training heute hat mich daran erinnert, dass ich meine leiblichen Eltern nie stolz machen werde. Mein Vater war auch richtig gut in Quidditch, er wäre so enttäuscht und meine Mutter, nun, meine Mama wird nie stolz auf mich sein können, weil sie sich gar nicht an mich erinnern kann – weder an mich, ihre leibliche Tochter, noch an irgendetwas Anderes in ihrem Leben."

Aviana hätte nie gedacht, dass sie einen solchen Schmerz empfinden könnte, für etwas, was ihr nicht selbst widerfahren war. Sie versuchte, sich für das Mädchen vor sich zusammenzureißen, doch die Trauer breitete sich auch in ihr aus, und als Merle das Gesicht in ihre behandschuhten Hände legte und leise schluchzte – sie wird mich nie kennen –, da blinzelte Aviana ihre eigenen Tränen weg.

Sie streckte einen Arm nach ihrer Freundin aus, zog sie sachte auf ihr Bett und schloss sie in eine, was sie hoffte, warme Umarmung. Aviana war überfordert. Trotz einer eigenen fehlenden Mutter wusste sie nicht, wie sie Merle in diesem Augenblick richtig helfen konnte. Sagte sie nichts und war einfach da, umarmte sie und wartete, bis die Tränen versiegten? Versuchte sie es mit Worten, die im besten Fall tröstend und im schlimmsten Fall herablassend wirken konnten?

Huffle-inWhere stories live. Discover now