13- Vom Fliegen und Fallen

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"Verdammt nochmal, das hätte gewaltig schiefgehen können. Und trotzdem habe ich mich darauf eingelassen. In der Hoffnung, Caro wieder so erleben zu dürfen, wie nach unserer gemeinsamen Nacht. Die Situation war noch so zurückhaltend gewesen, fast schon verschlossen. Vermutlich hat es daran gelegen, dass wir uns beide deutlich bewusst waren, wie negativ sich unsere Umstände auf uns auswirken können. Es braucht nur einen falschen Blick oder Ton und eine noch falschere Person, die diesen aufgreift. Alles wäre vorbei. Nicht nur unser Verhältnis, sondern auch mein Leben. Ich weiß nicht einmal, wie ich fühlen würde. Welche Gedanken in meinem Kopf umherkreisen würden. Meine gesamte Welt, all meine Bemühungen wären dahin. Zahlt sich der Kontakt zu Caro insoweit aus, als dass es sich lohnt, meinen Beruf und mein gesamtes Umfeld zu verlieren? Sie ist noch so jung, gerade einmal 18 Jahre alt. Sie hat noch so viel vor sich. Eine erfolgreiche Karriere, eine eigene, liebende Familie, eine insgesamt aussichtsreiche Zukunft... All das wird sie auch ohne mich schaffen. Wer bin ich schließlich schon? Ich bin eine 34-jährige Frau, die bisher noch nichts auf die Reihe bekommen hat, bis auf das Absolvieren eines Studiums. Ich bin gewöhnlich, der Inbegriff des Wortes "Durchschnitt". So aufregend meine Vergangenheit auf den ein oder anderen auch wirken mag, so inhaltslos und ermüdend ist sie tatsächlich. Ich komme aus einem normalen Elternhaus, hatte bis auf die Trennung meiner Mutter von meinem Vater eine normale Kindheit. Natürlich hatte es schon etwas Besonderes an sich, auf dem Land aufzuwachsen, bevor es mich dann letztlich aufgrund meines Berufswunsches in eine Stadt verschlagen hat. Hm, Berufswunsch... Natürlich war das immer ein großer Traum von mir gewesen. Lehramt war nicht "die letzte Option", es war kein Plan B oder gar Plan Z. Nein, es war das eine, große Ding. Das, was mich schon immer fasziniert und gepackt hat. Jungen Menschen mein Wissen weiterleiten, sie auf ihren weiteren Werdegang vorbereiten. Gut, inwieweit das deutsche Schulsystem das hergibt ist und bleibt fraglich, doch dieser Kerngedanke war immer meine größte Motivation. Wie oft wollte ich alles hinschmeißen, habe gebangt und gezweifelt, ob ich das alles schaffe. Ob ich meinen mir selbst gesetzten Anforderungen gewachsen bin. Aber letzten Endes hat sich doch noch alles rentiert. Jeder Schüler, der es schafft, durch meine Unterrichtsmethoden selbst seinem absoluten Hassfach eine geringe Menge an Interesse entgegenzubringen, bestätigt mich. Jeder noch so kleine Klausurerfolg der etwas Leistungsswächeren verleiht mir ein unfassbar gutes Gefühl. Wäre ich bereit, genau diesen stetig wiederkehrenden Triumph aufzugeben und hinter mir zu lassen? So gerne ich eine Antwort darauf parat hätte, ich habe sie nicht. Ich besitze nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wie mein Leben weitergehen sollte. Und dann ist da noch Caro. Die, in deren Anwesenheit solche Fragen gänzlich verschwimmen und durch ein bloßes Kribbeln ersetzt werden. Ihre Schönheit vermag nicht mehr aus meinem Gedächtnis zu weichen und ihr Lachen hallt auch noch nach einigen Stunden in mir nach. Und vermutlich würde ich mich, wenn ich mich dazu entscheide, nur noch meinem Bauchgefühl zu folgen, in eine gemeinsame Zukunft mit ihr stürzen. Das wiederum würde einen freien Fall bedeuten, bei dem es keinerlei Garantie gäbe, dass wir weich landen. Ein Auffangnetz oder einen Sicherheitsgurt steht in der Liebe nicht zur Verfügung, das gibt sie schlicht und ergreifend nicht her. Volles Risiko oder feiger Rückzieher, ganz oder gar nicht."

Der konstant aufsteigende Nebel, welcher Isabelles Wagen mit seiner Leichtigkeit durch die Nacht trug, wich nicht ein einziges Mal von dessen Seite. Die Blondine bemühte sich, trotz des sie umschließenden Rauches eine ausreichende Sicht zu bewahren, doch diese wurde ihr ebenso durch die parallel auf sie zurauschenden Mengen an Schneeflocken bloß mäßig gestattet. Ihre Scheibenwischer lieferten zwar deren Höchstgeschwindigkeit und die Strahlen ihrer Scheinwerfer durchbrachen konstant die sich vor ihr aufgebaute Nebelmauer, jedoch hielt ihr Polo dem Sturm nur geringfügig stand. Die Reifen des Fahrzeuges begannen allmählich zu schwanken, und so reduzierte Isabelle die Geschwindigkeit und achtete auf die Konstanz ihrer km/h-Zahl. Sie war grundsätzlich keine begeisterte Autofahrerin gewesen, doch nachts verwandelte sich jegliche Fahrt auf den betonierten Straßen für sie zu einem Höllenritt. Nicht, dass es an eigener, fundamentaler Unsicherheit oder fehlendem Können gelegen hätte, nein. Es fand seinen Ursprung in einem einschneidenden Erlebnis, welches ihrer Vergangenheit angehörte. Damals, sie war ebenso wie Caro gerade erst volljährig geworden, hatte sie sich auf dem Weg zu einem Konzert befunden. Sie konnte sich noch genau an jede Einzelheit erinnern. Eine warme Sommernacht, drei weitere Freunde, ausreichend Alkohol. Eine Millisekunde Abwesenheit beim Lenken des Wagens, eine Millisekunde zu viel. Die Situation war filmartig an ihr vorbeigezogen, alles war bloß verschwommen für sie erkennbar gewesen. Und doch hatte sie ihn mitbekommen. Den Knall. Die darauffolgenden Schreie. Die pure Angst um das Überleben. Eine Platzwunde an der Schläfe und unzählige blaue Flecke waren das Einzige gewesen, was sie körperlich davongetragen hatte, und doch war tief in ihrem Inneren noch Weiteres zerbrochen. Sie hatte ihren besten Freund verloren. Monatelang hatte sie niemand dazu bringen können, auch nur einen Fuß in ein Fahrzeug zu setzen, monatelang war sie von Albträumen geplagt worden. Die Nacht hatte sich stets in ihrer unmittelbaren Nähe befunden und sie mit jedem Schritt, den sie tat und mit jeder Handlung, die sie vollzog, begleitet. Alles war von ihr bestimmt worden. Der Weg zum Therapeuten war der letzte Ausweg gewesen, der ihr letztlich auch dazu verholfen hatte, ihre vorherige Lebensqualität zurückzugewinnen. Ihre berufliche Zukunft hatte jedoch sowohl einen Führerschein, als auch die Nutzung dessen vorausgesetzt. Anders wäre es ihr kaum möglich gewesen, jederzeit zur Stelle und einsatzbereit zu sein. Niemand hätte ein sich wiederholendes Zuspätkommen oder stetige Absagen für Vertretungen verstanden oder in irgendeiner Weise geduldet. So hatte sie sich zusammengerissen und erneut die regelmäßige Nutzung ihres damaligen Wagens gewagt. Auch, wenn sich dies psychisch als eine immense Belastungsprobe herausgestellt hatte. Doch sie musste funktionieren. Den Weg zur Uni hatte die Blondine damals, wenn auch mulmigen Gemüts, noch recht simpel mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestreiten können. Doch sobald es für sie an ihre erste Schule gegangen war, hatte sie keine andere Wahl besessen. Im Nachhinein war sie jedoch froh über ihren Fortschritt und das Herausfinden aus ihrem Loch gewesen. Doch seine Lücke würde nie wieder jemand füllen können. Er war fort. Für immer.

Try not to fall (TeacherxStudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt