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Mittlerweile waren wir schon zwei weitere Stunden gelaufen, in denen nichts passiert war. Vielleicht war diese Warnung auch einfach nur eine weitere Variable von ANGST. Das war sogar ziemlich einleuchtend, wenn man so darüber nachdachte.

Man konnte die Anspannung, die in der Luft lag direkt spüren. Alle Mädchen wirkten nach dieser komischen Drohung ängstlicher und unsicherer. Auch ich hatte mich automatisch verkrampft.

"Wir bleiben hier und ruhen uns etwas aus. Ich wecke euch dann. Während ihr schlaft halte ich Wache.", legte Harriet fest, nachdem wir angehalten hatten. Das Teresa nichts dagegen sagte, wunderte mich.

Als ich etwas gegessen und getrunken hatte, legte ich meinen Kopf auf den Rucksack. Schlafen konnte ich nicht, allerdings döste ich vor mich hin.

"Aufstehen! Alle sofort aufstehen!", schrie plötzlich jemand. Wenige Sekunden später war jeder wieder wach.

"Was ist denn?"

"Müssen wir schon wieder los?"

"Das war doch nur eine Stunde."

Alle redeten wild durcheinander. "Ruhe! Seht ihr das da vorne?", rief jetzt Harriet.

Ich streckte mich, um über die anderen hinwegsehen zu können. Etwa fünfzig Meter von uns entfernt stand eine Gestalt.

Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da es im Schatten lag. Es war unheimlich, da sie nichts sagte und sich auch nicht bewegte. Wie eine Statue. Man konnte nicht mal Atembewegungen erkennen.

"Was ist das?", fragte Sonya. "Ich weiß es nicht, aber es war auf einmal da. Ich denke, es ist ein Mann.", antwortete Harriet.

Vorsichtig drängelte ich mich an den Mädchen vorbei nach vorne. "Zieht eure Rucksäcke auf und haltet eure Waffen bereit.", flüsterte ich, während meine Augen die Gestalt durchgehend fixierten.

Auch ich selbst hatte meinen Rucksack und den Köcher mit den Pfeilen wieder auf dem Rücken. Meinen Bogen hielt ich fest in der linken Hand.

Die Mädchen - sogar Teresa - taten das, was ich gesagt hatte. Als ich vor der Gruppe stand, blieb ich stehen. "Falls sie uns angreifen, müssen wir auf Fernkampf setzen. Wir haben hier keinen Platz um uns richtig zu bewegen. Alle, die einen Bogen haben, kommen nach vorne.", flüsterte ich wieder.

Nachdem ich hinter mir einige Schritte hörte, tauchte Sonya neben mir auf. Langsam griff ich über meinen Kopf nach einem Pfeil, den ich dann in die Sehne des Bogens spannte.

Sonya und die anderen Bogenschützinnen taten es mir gleich. Ich stellte mich seitlich hin und zielte auf die Gestalt. Könnte ich wirklich einen Menschen töten? Wenn sie uns angreifen würden, wäre es Notwehr - das versuchte ich mir zumindest einzureden.

"Das müssen die Cranks sein, von denen diese Stimme gesprochen hat.", wisperte jemand hinter mir.

Cranks. Ein schauriger Name.

"Cranks, Cranks, Cranks. Wir sind alle Cranks.", sang eine weibliche Stimme. Das war keiner von uns gewesen, da war ich mir sicher.

Neben der Gestalt tauchte jetzt eine weitere auf. Reflexartig spannte ich mich noch mehr an.

Die zweite Gestalt war eindeutig eine Frau. Sie hatte verstrubbeltes, langes Haar, was in Strähnen von ihrem Kopf hing. Sie leckte sich immer wieder über ihre Lippen. Ihre Zähne konnte ich kaum erkennen, da sie unnatürlich schwarz waren.

Sie gab ein abscheuliches Lachen von sich: "Cranks, Cranks, Cranks. Wir sind alle Cranks." Sie wiederholte immer wieder ihre Worte.

Keiner von uns rührte sich. Erst jetzt fiel mir der widerliche Gestank auf, der vermutlich von diesen Cranks verursacht wurde.

Immer mehr Gestalten traten aus dem Schatten, bis es ungefähr ein Dutzend waren. Wir könnten auf jeden Fall gegen sie gewinnen - sollte es zum Kampf kommen.

"Frrrreunde, kommt zu uns. Dann können wir alle zusammen essen.", quietschte die Frau und wiederholte erneut ihre Worte. Das r hatte sie unnötig lang grollt, was das Ganze noch unheimlicher wirken ließ.

Als wir uns nicht regten, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er wurde dunkler, hinterlistiger als vorher: "Na gut, dann holen wir uns unsere Essensgäste eben selbst."

"Wenn ihr auch nur einen Schritt näherkommt, schießen wir.", drohte ich laut. Dann kniete ich mich auf den Boden, damit die Schützen hinter mir freie Schussbahn hatten. Sonya verstand und tat es mir gleich.

Die Frau ignorierte meine Drohung und kam näher. Ihre Kumpanen folgten ihr. Wenn ich nicht schießen würde, würden es die anderen auch nicht tun.

Ich atmete nochmal tief ein und ließ dann den Pfeil fliegen. Jetzt musste ich ignorieren, dass das Menschen waren.

Mein Pfeil flog und traf die Frau genau ins Herz. Für einen Moment herrschte Totenstille, bis sie vornüberkippte und sich nichtmehr rührte.

Ich hatte eine Frau ermordet. Dieser Satz schoss mir immer wieder durch den Kopf, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Während die anderen Cranks kurz stehengeblieben waren, spannte ich schnell den nächsten Pfeil in die Sehne.

Die ersten Cranks gaben gurgelnde Geräusche von sich und kamen dann schneller auf uns zu. Man konnte nicht sagen, dass sie liefen. Es war eher eine Mischung aus torkeln und stolpern.

Ich ließ wie automatisch den nächsten Pfeil fliegen, der sein Ziel nicht verfehlte. Auch die anderen Bogenschützinnen feuerten einen Pfeil nach dem anderen ab.

Die Cranks schrien animalisch herum als sie sahen, dass einer nach dem anderen von ihnen tot umkippte.

Ich hatte mein Gehirn komplett ausgeschaltet. Schon nach wenigen Minuten wurde es wieder still. Man konnte nur das schwere atmen von mir, Sonya und den anderen hören.

Geschockt, über meine Pfeil-und-Bogen-Künste, starrte ich fassungslos auf die Leichen vor mir. Die anderen Schützinnen hatten auch mit jedem Schuss getroffen.

"Ist es vorbei?", fragte eine zitternde Stimme. Niemand antwortete. Es dauerte einige Minuten, bis ich wieder stand. "Wir müssen unsere Pfeile wieder einsammeln, sonst haben wir irgendwann keine mehr.", meinte Sonya bedrückt.

Sie hatte Recht, wobei ich keine sonderlich große Lust darauf hatte, die Holzdinger aus den Leichen zu ziehen.

Trotzdem machte ich mich auf den Weg zu den toten Cranks. Einen Pfeil nach dem anderen zog ich mit einem fürchterlich schmatzenden Geräusch aus den Körpern.

Die anderen taten es mir gleich, bis wieder jeder seine Pfeile eingesammelt hatte. Gerade, als Teresa etwas sagen wollte, ertönte ein lauter, greller Schrei.

Alle Mädchen drehten sich automatisch um. Der Schrei schwang in ein grausames, ersticktes Geräusch um und endete abrupt.

Jetzt fingen einige der anderen ebenfalls an, zu schreien. "Los, greift sie an!", befahl Teresa.

Lautes Gebrüll war zu hören. Ich hatte immer noch nicht gesehen, was da vor sich ging. Doch bevor ich überhaupt eingreifen konnte, war es schon wieder vorbei.

"Was war los?", rief Sonya, die wie ich nichts gesehen hatte. "Dora, sie wurde von zwei Cranks angegriffen, die sich von hinten angeschlichen haben. Sie und Anna sind tot."

Worst Lie [Newt FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt