42 - ... und eine Mutter

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Dana

Verschlafen rieb ich mir über die Augen und gähnte ausgiebig. Wie war ich in mein Gemach gelangt? Wann war ich überhaupt eingeschlafen?
Langsam erinnerte ich mich an das Geschehene und erschrak, als ich daran dachte, dass Edouard mich vor allen Gästen als Mörderin geschimpft hatte. Was würden die Adeligen, vor denen ich mich auch so schon zu Genüge fürchtete, nun von mir denken? Würden sie ihm Glauben schenken?
Ich hoffte nicht.
Seufzend richtete ich mich in meinem weichen Bett auf. Ich hatte noch immer mein Ballkleid  an. Oh nein, nun würde es völlig zerknittert sein.
Eiligst richtete ich mich auf und sprang aus dem Bett, auch wenn ich am liebsten für immer liegengeblieben wäre.
Ohne die Hilfe meiner Zofen, erwies es sich als ziemlich schwierig aus dem Kleid zu schlüpfen,  doch in dem Moment, in dem ich schon aufgeben wollte, öffnete sich die Tür einen Spalt breit und Mira lugte ins Zimmer.
SIe zuckte leicht zusammen, als sie bemerkte, dass das Himmelbett leer war, allerdings währte der Schreck nur kurz, denn schon erblickte sie mich, wie ich versuchte aus dem Kleid zu kommen.
Die kleine Schwarzhaarige versteckte ein Lächeln und bat ihre Hilfe an, die ich nur zu gern annahm.
»Wie geht es dir, Dana?«, fragte sie leise.
Mir war bereits, als ich sie das erste Mal gesehen hatte, bewusst, dass sie eine eher ruhigere Person war, aber ich ahnte, dass hinter dieser leisen, zögerlichen Stimme mehr steckte. Doch wie es schien, unterdrückte sie eben diesen Teil. Oder die Narbe, die ihre Wange zierte, erinnerte sie an ein unschönes Ereignis, dass diesen Charakterwechsel ausgelöst hatte.
Ungewollt erinnerte mich dies an mich selbst. Denn früher war ich nicht so ängstlich und vorsichtig. Ich war neugierig und lebensfroh. Bevor ich beschloss meine Stimme nie wieder zu benutzen. Bevor ich die Menschen, die mir am nächsten waren verloren hatte.
Ich sah mich im Spiegel an, als Mira mich in ein blass rosafarbenes Kleid steckte. Meine Augen waren verquollen und rot. Meine Haut sah ungesund blass aus und meine Haare waren ein einziges Durcheinander.
Doch wenn man von meinem äußerlichen Erscheinungsbild mal absah, fühlte ich mich eigentlich ganz gut. Nicolas war zwar gerade höchstwahrscheinlich fuchsteufelswild, aber er hatte diesen Teil meiner Vergangenheit sehr gut angenommen. Womöglich würde er auch den Rest meiner Geschichte  mehr oder weniger gut aufnehmen.
»Dana?«, sprach Mira mich erneut an, als ich nicht reagierte.
Ich zuckte leicht zusammen, doch lächelte sie anschließend an. Es ging mir gut. Besser als gedacht.
»Ich sollte dir noch mitteilen, dass die Königin in der großen Bibliothek auf dich wartet«, erzählte sie nebensächlich, als sie mir die Haare in einem lockeren Zopf nach hinten flocht. Anschließend legte sie mir den Zopf auf die Schulter.
»Sie sagte etwas von, dass sie deine Schrift verschönern möchte.«
Mira sah mich neugierig an, doch ich konnte bloß mit den Schultern zucken. Unbewusst schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Es freute mich, dass mich meine zukünftige Schwiegermutter nun endlich akzeptiert hatte. Und zwar keine Minute zu spät.
»Bitte sehr«, sagte die Zofe, nachdem sie mir den goldenen Haarreif in die Haare steckte.
Ich umarmte sie zum Dank. Meine drei Zofen waren mir in der Zeit, in der ich mich im Schloss  befand stets zur Seite gestanden. Ich wüsste nicht, wo ich nun wäre, wenn diese drei nicht wären.
Mit einem letzten Lächeln verschwand ich aus der Tür.
Während ich den langen Gang entlanglief, bemerkte ich wie still es im Schloss war. Es war früher Abend gewesen, als der Ball eröffnet wurde und ich hatte meiner Ansicht nach nicht lange geschlafen, doch womöglich täuschte ich mich.
Gedankenverloren achtete ich kaum auf meine Umgebung und wurde jedoch abrupt auf diese aufmerksam, als ich gegen etwas lief.
Ein kleiner Schrei entfloh mir und ich blickte zu der teuren Vase, die wahrscheinlich gerade wegen mir zersplittert war, dem noch teureren Gemälde, das meinetwegen nun womöglich einen Riss hatte, oder der unbezahlbaren Antiquität, die zerstört war. Doch während ich all dies erwartete - und fürchtete -, trat eben dies nicht ein, stattdessen hörte ich nur ein leises »Au«.
Überrascht blickte ich einem kleinen Jungen entgegen. Seine großen braunen Augen sahen mich ebenso verwundert an.
»Jonah!«, erklang daraufhin eine aufgeregte Stimme.
Wie erstarrt blieb ich stehen und beobachtete das Schauspiel vor meinen Augen. Eine Frau rannte uns entgegen. Sie trug ein einfaches Kleid, das früher einmal grün war, doch die Farbe war  sehr verblichen. Ihre Haare besaßen eine wunderschöne kastanienbraune Farbe und waren locker hochgebunden und unordentlich zusammengesteckt, sodass sich bereits einige Haarsträhnen aus der Frisur befreit hatten.
»Jonah, wie oft hatte ich dir gesagt, dass du nicht ohne mich irgendwohin laufen sollst«, rügte die Frau den kleinen Jungen, doch dieser sah sie nur kurz an, als er sich wieder mir zuwandte.
Nun bemerkte mich auch die Frau. Erschrocken weiteten sich ihre ebenfalls braunen Augen. Sie sank in einen tiefen Knicks.
»Verzeiht bitte das ungebührliche Verhalten meines Sohnes, Mylady. Es wird nie wieder vorkommen«, meinte sie und packte im selben Augenblick ihren Sohn am Oberarm. »Komm jetzt, Jonah. Du hast die Lady zu Genüge gestört.«
Ehe die Mutter den Jungen mit sich ziehen konnte, rief er plötzlich: »Warte, Mami! Ich glaube das ist die Prinzessin.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte die Frau zu ihrem Sohn. »Das macht dein Benehmen nicht besser.«
»Aber Nico meint, ich darf sie kennenlernen! Ich will sie kennenlernen.«
Nico? Meinte er Nicolas?
Die Mutter sah leicht gehetzt zu mir. Ihr war dies offenbar unangenehm.
»Doch nicht jetzt, Jonah. Sie ist bestimmt beschäftigt.«
»Aber Nico hat es versprochen«, stampfte der Junge wütend mit dem Fuß auf. Er hatte seine Unterlippe ein wenig vorgeschoben und verschränkte seine Arme stur vor seiner Brust.
Ehe einer von beiden noch ein Wort sagen konnte, beschloss ich dem kleinen Jungen seinen Wunsch zu erfüllen und kniete mich neben ihm hin und streckte meine Hand aus. Lächelnd ergriff der Kleine diese und gab mir einen Handkuss darauf.
Ich kicherte aufgrund dieser niedlichen Geste. So klein und schon so charmant.
»Ich bin Jonah«, stellte er sich vor. »Und du bist Nicos Gefährtin, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Prinzessin, Ihr müsst dies nicht tun, wenn ihr etwas Besseres zu tun habt, dann -«
Ich schüttelte bloß den Kopf. Es war in Ordnung. Das war es wirklich. Der kleine Junge war zu süß und ich fühlte mich geehrt, dass er mich so gerne kennenlernen wollte.
»Dein Name ist Dana, oder? Nico sagt immer Schatz zu dir, aber du schaust nicht aus wie eine Truhe. Du bist hübsch.«
Erneut musste ich kichern. Diese kindliche Unschuld war einfach bezaubernd.
»Wo wolltet Ihr hin, Eure Hoheit?«, wollte die Frau wissen. »Ich glaube, Jonah wird Euch in Ruhe lassen, wenn er Euch zu Eurem Ziel geleiten dürfte.«
Die Idee gefiel mir und wie es schien auch dem kleinen Kavalier, denn dieser verbeugte sich tief und bot mir seinen Arm an.
»Mylady, ich gleite Euch in wo-du-hin-willst«, versuchte er förmlich zu sprechen.
»Es heißt geleiten, Jonah«, verbesserte ihn seine Mutter.
»Ge-lei-ten«, sprach der Kleine Silbe für Silbe aus. »Wohin denn?«
»Wo müsst Ihr hin, Eure Hoheit?«, wandte sich die Frau wieder mir zu.
Als ich sie bloß hilflos anblickte, verstand sie, denn sie sagte: »Wir folgen Euch einfach, in Ordnung?«
Dankbar lächelte ich sie an und nickte.
»Danke, für die Ehre, die ich habe, weil ich dich hierherführen darf«, meinte Jonah, »Oder war es die Ehre, die ich hingeführt habe, und sie jetzt habe?«
Verwirrt zog der Kleine seine Augenbrauen zusammen. Seine Mutter hingegen verdrehte bloß die Augen.
»Komm jetzt, Jonah. Du kannst das auch später üben.«
»Aber ich will es richtig sagen«, schmollte der Kleine.
»Die Prinzessin versteht bestimmt, was du meinst«, sie wandte sich mir zu, »nicht wahr?«
Sofort nickte ich, denn ich wollte nicht, dass der Junge weiterhin traurig war.
»Gut, ich komme«, meinte er zu seiner Mutter.
Bevor sie um die Ecke bogen, winkte Jonah mir noch zu und rief: »Tschüss, Tante.«
Geistesabwesend hob ich auch meine Hand und winkte, doch meine Gedanken waren ein komplettes Durcheinander. Tante? Mein Bruder war tot. Schon seit über vier Jahren. Doch wenn ich nun darüber nachdachte. Der Junge sah nicht älter als vier aus. Konnte es sein, dass ...
Nein, unmöglich. Das hätte ich gewusst, außerdem was würde der Sohn meines Bruders im Palast suchen.
Kopfschüttelnd öffnete ich die massive Holztür, die in die große Bibliothek führte. Sie war ziemlich schwer und ich stemmte mich mit meinem gesamten Körpergewicht dagegen, als sie plötzlich aufschwang und ich das Gleichgewicht verlor. Mit vor Verlegenheit roten Wangen stolperte ich ein paar Schritte, ehe ich meine Balance wiederfand. Da ich mir sicher war, dass mindestens eine Person meinen beinahe Sturz bemerkt haben musste, nahm ich mir noch die Zeit imaginären Staub von meinem Rock zu putzen, bevor ich meinen noch vorhandenen Mut zusammenkratzte und hinaufblickte.
Und niemanden sah.
Da habe ich offenbar noch Glück gehabt, dachte ich erleichtert.
»Denk nicht, ich habe deinen Sturz nicht mitbekommen«, meinte auf einmal eine Stimme.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus, dann sah ich mich hektisch in der großen Bibliothek um. Doch ich war umgeben von Regalen, die vollgestopft waren mit Büchern.
»Hier hinten«, erklang daraufhin erneut die mysteriöse Stimme, die ich langsam als die der Königin zuordnen konnte.
Ich umrundete das hohe Regal vor mir und vor mir erstreckte sich eine gemütliche Sitzecke mit plüschigen Sesseln, einen weinroten Teppich, der unfassbar weich aussah, und sogar einem Kamin. Der Kamin war zwar nicht äußerst imposant, doch um ehrlich zu sein, wunderte es mich, dass sie es überhaupt wagten ein Feuer in der Nähe von so vielen Büchern zu entzünden.
In einem der Sesseln saß die Königin. Sie hatte eine Tasse in der Hand, aus der kleine Dampfwölkchen emporstiegen, und eine giftgrüne Decke lag über ihren Beinen.
»Dana, schön, dass du da bist«, begrüßte mich die Königin. »Komm, setz dich.«
Ich folgte ihrer Bitte und ließ mich auf dem Stuhl neben ihr nieder.
»Hier, das ist Kräutertee. Der beruhigt«, hielt sie mir eine Tasse entgegen. »Nur vorsichtig trinken. Er ist heiß.«
Ich nickte und blies ein wenig über den heißen Tee, ehe ich einen Schluck wagte.
»Wie geht es dir, Dana? Der Ball ist doch etwas anders ausgefallen, als geplant.«
Langsam ließ ich das Getränk auf meinen Schoß sinken und lächelte die Königin unsicher an. Ich zuckte die Schultern.
»Etwas durcheinander?«, tippte sie.
Dies bestätigte ich mit einem Nicken. Es war nun mal sehr viel passiert an diesem Abend.
»Ich muss sagen du hast dich sehr gut geschlagen«, begann die Königin. »Du hast kaum auf seine Anschuldigungen reagiert. Du hast sogar versucht diesen Bastard zu schützen.«
Als die Königin diesen unschönen Ausdruck in den Mund nahm, sah ich sie bloß mit großen Augen an. Meine Mutter hatte mir stets verboten solche Ausdrücke in den Mund zu nehmen, als ich noch sprach. Damals fand ich es allerdings lustig, denn Hannes und Vater benützten sie auch und ich war noch zu jung um zu verstehen, was ich da sagte. Aber ich hätte wohl nie erwartet, dass die Königin solche Wörter benutze.
Als sie meinen entgeisterten Blick bemerkte, lächelte sie nur milde. »Nur eine wahre Lady darf fluchen«, war ihre Erklärung und ich musste unwillkürlich auflachen.
Sie lächelte mich an, doch die Königin wurde augenblicklich wieder ernst. »Dana, hör mir bitte jetzt ganz kurz genau zu. Es werden harte Zeiten auf dich und Nicolas warten. Ich weiß, ich war bisher keine gute Schwiegermutter oder gar Königin. Ich hätte dich unterstützen und nicht noch weiter wegstoßen sollen, doch dies hat mir gezeigt, dass du einen starken Willen besitzt. Und diese innere Stärke wirst du auch brauchen. Ich will dich zu nichts zwingen, Dana, aber mit den kürzlichen Komplikationen, die aufgetreten sind, wird es bald vonnöten sein, dass du uns wenigstens einen Teil deiner Vergangenheit erzählst. Ich weiß, dass das schwierig ist, doch wenn du und Nicolas jemals gemeinsam regieren wollt, dürft ihr keine Geheimnisse voreinander haben, denn sonst könnt ihr einander nicht schützen. Und das werdet ihr müssen, wenn weitere wie Edouard irgendwann mal auftauchen. Leute, die Lügen verbreiten, und Unruhe stiften wollen. Verstehst du was ich meine? Ich möchte nicht mit ansehen müssen wie deine und Nicolas Beziehung in die Brüche geht, nur, weil ein paar Menschen denken, sie wären etwas Besseres.«
Mit einem traurigen Lächeln wandte sie ihren Blick aus den eisblauen Augen, die Nicolas so sehr glichen, zu den Flammen im Kamin. Ich spürte die plötzliche Veränderung in der Stimmung.
»Und um dir zu zeigen, wie wichtig mir das ist, dass ihr zwei glücklich miteinander werdet und alle Steine, die euch in den Weg gelegt werden, überwindet, fange ich an«, sie atmete tief ein und aus und blickte mir tief in die Augen, »Ich werde dir meine Geschichte erzählen.«

Die stumme Prinzessin (alte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt