10 - ... und doch ganz anders

3.4K 166 31
                                    

Dana

Und dann ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Ein Schuss.
Ich saß kerzengerade in meinem Bett und nahm gar nicht wahr, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte keinen Gewehrschuss mehr gehört seit ... seit ich ihn verloren hatte. Es war als wäre ich mitten in meinem persönlichen Alptraum aufgewacht. Nur dass es kein Traum war, sondern die harte Realität.
Als ich lautes Getrampel von Stiefeln auf dem Holzboden vernahm, zuckte mein Blick zur Tür. Derweil fiel mir etwas Helles aus dem Augenwinkel auf. Nicolas' Brief. Er hob sich mit seinem elfenbeinfarbenen Umschlag deutlich von der aus dunklem Holz bestehenden Kommode ab. Ich starrte ihn an. Irgendwas versuchte in mein Bewusstsein zu drängen, jedoch konnte ich es nicht erfassen.
Schließlich stand ich von meinem Bett auf und trat ans Fenster, da ich laute Stimmen und verängstigtes Wiehern eines Pferdes vernahm. Ich hatte schon jetzt Mitleid mit dem Pferd. Meine immer noch zitternden Hände legte ich auf das Fensterbrett und blickte auf die vielen Menschen vor unserem Haus. Sie alle liefen hektisch herum, riefen durcheinander ... nur eine Person nicht. Sie lag am Boden. Der Kopf war auf die Seite gedreht. Dunkles Haar fiel ihm, - es war sichtlich ein Mann - ins Gesicht und verbarg dieses. Plötzlich verkrampften meine Finger sich um das Holzbrett und die Nägeln bohrten sich hinein. Mein ganzer Körper erstarrte und ich hatte bloß einen Gedanken, der mir unentwegt durch den Kopf schwirrte: Nein. Nicht schon wieder.

Die kühle Abendluft umwehte mich. Sie wehte mir meine Haare ins Gesicht und ersparte mir den grausamen Anblick. Die Männer waren zu beschäftigt um sich um mich zu kümmern. Ein kleines Mädchen im weißen Nachthemd. Wie ein Geist. Und ich fühlte mich auch wie einer. Ich spürte nichts. Ich wollte nicht spüren. Weder das Gras unter mir, das Licht der Sterne über mir, die Anwesenheit der Männer neben, hinter und vor mir noch den Schmerz in mir. Ich wollte nur ihn spüren. Seinen warmen Blick auf mir, wenn er mich anlächelte. Seine Arme um mich, wenn er mich festhielt. Seine Lippen auf meinen, wenn er mein Herz zum Rasen brachte. Seine Liebe für mich, vor der ich nun keine Angst mehr hatte.
Ich wollte ihn. Nicolas. Den Fremden, der er anfangs war. Den Freund, mit dem ich schöne ruhige Momente verbracht hatte. Den Liebhaber, der mich mit seiner unwiderstehlichen Art immer zum Erröten brachte. Den Seelengefährten, ohne den ich nicht mehr leben konnte.
Tränen traten mir in die Augen und ich zog die Decke, die ich mir in der Hast um die Schultern geworfen hatte, fester um mich. Vorsichtig ließ ich mich neben ihm nieder. Seine Augen waren geschlossen, Strähnen seines dunklen Haares fielen ihm ins Gesicht. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, sowie er seine Zähne vor Schmerz zusammenbiss. Er machte dies wohl unbewusst, denn es war offensichtlich, dass er bewusstlos geworden war, als ihn die Kugel traf. Sein Atem ging flach und schnell. Gehetzt. Jedoch atmete er und solange er dies nicht abstellte, versuchte ich ruhig zu bleiben.
Eilig huschten meine Augen über seinen Körper um die Einschussstelle ausfindig zu machen. Doch ... ich fand sie nicht. Vielleicht war sie ja am Rücken? Doch das war unwahrscheinlich, da ihn sonst schon längst jemand umgedreht hätte. Sonst würde sich die Wunde entzünden und das würde niemand unterstützen.
Dennoch war ich verwirrt. Wenn nicht er von dem Schuss, von dem ich aufgewacht war, getroffen worden war ... wer dann? Und die wesentlich wichtigere Frage: Was fehlte denn nun meinem Liebsten?
Während ich grübelte und Nicolas derweil nicht aus den Augen ließ, setzte sich irgendwann ein Mann gegenüber von mir auf Nicolas' andere Seite. Er beachtete mich nicht und schnitt mit geübter Hand das Hemd meines Gefährten auf. Ich schnappte erschrocken nach Luft und errötete wieder einmal. Das war doch lächerlich, ermahnte ich mich daraufhin in Gedanken. Ich konnte doch nicht bei jeder Kleinigkeit gleich rot werden. Dennoch war mir die Situation unangenehm, vor allem weil mein Gefährte verletzt und nicht bei Bewusstsein war. Endlich konnte ich auch die Verletzung sehen. Zumindest halbwegs. Irgendwas musste ihn an der Brust getroffen haben, denn diese war ein Gemälde aus blau und rot. Violett. Ich konnte mir vorstellen, dass nicht die einzigen Verletzungen waren, die er davon getragen hatte. Sicherlich hatten auch seine Rippen einiges abbekommen. Ich starrte gebannt auf seine Brust und unterdrückte die aufkommenden Tränen. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Er durfte nicht sterben. Ich hatte ihn doch gerade erst akzeptiert! Das war nicht fair.
Der Mann vor mir, der offenbar Arzt war arbeitete flink weiter und ignorierte meinen Gefühlsausbruch. Wofür ich ihm auch sehr dankbar war, weil ich wollte, dass er sich um meinen Gefährten kümmerte.
»Legen Sie sich neben ihn, Mylady«, sprach dieser auf einmal, blickte jedoch nicht von seiner Arbeit auf, »es wird ihm helfen zu genesen, wenn er spürt, dass Sie bei ihm sind.«
Leise wimmernd rollte ich mich auf dem Gras zu einer Kugel zusammen. Meine Stirn berührte ihn an der Seite, da ich direkt unter seinem Arm lag, meine Knie seine Hüfte. Ich versuchte den Ernst der Situation zu verdrängen, versuchte zu vergessen, dass mein Gefährte neben mir vielleicht starb.
Ich unterdrückte die aufkommenden Schluchzer, während Tränen meine Wangen hinabrannen. Er durfte nicht sterben! Ich presste meine Hand auf meinen Mund. Sei still, Dana. Es wird ihm nicht helfen, wenn du hier rumheulst.
Mit größter Willensanstrengung beruhigte ich mich, hörte auf zu weinen, wurde ganz still.
Doch in meinem Inneren tobte ein Sturm ... auch wenn es sich anfühlte, als ob mir mein Herz rausgerissen wurde. Ein dunkles Loch, das nur eine Person wieder flicken konnte.

Die stumme Prinzessin (alte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt