1- First encounter

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"Wow, noch ein Knoten mehr und meine Haare gehen glatt als Vogelnest durch."

Caro war spät dran. Sehr spät. Erst zwanzig Minuten vor Schulbeginn aufzustehen konnte selbst einem wahren Morgenmenschen manchmal zum Verhängnis werden. Nachdem ihre Locken einigermaßen gebändigt waren, schnappte sie sich ihr Jeanshemd aus dem Schrank, warf sich ihre Schultasche über und stolperte die Treppe hinunter. "Jacke, Schlüssel, Handy, Busfahrkarte", ging sie in ihrem Kopf durch und versuchte, ihre innere Ruhe trotz des vorhandenen Zeitdruckes zu bewahren. Wenige Zentimeter, bevor ihre Fingerkuppen die Türklinke erreichten, kam ihr plötzlich ihr Hund in den Sinn. Ohne eine Verabschiedung von ihm ging es nicht aus dem Haus, das war eines ihrer Prinzipien.

"Jasper, komm her, ich hab' keine Zeit!"

Langsam aber sicher ertönte ein ihr gewohnter Klang von tapsenden Pfoten auf dem Laminat. So ganz fit war er morgens nie. Doch er wusste, dass er sonst eine Streicheleinheit verpassen würde, also legte er einen Zahn zu. Nachdem das erledigt war, riss Caro die Haustür auf und rannte zum Bus, der bereits an der Haltestelle stand. Knapp, aber immerhin. Es war, wie jeden Morgen, brechend voll und sie vernahm eine Duftmischung aus diversen Parfums die ebenfalls, wie jeden Morgen, eindeutig zu viel des Guten war. An der Schule angekommen sprintete sie Richtung Eingang, schließlich hatte sie gerade so den letzten Bus erreicht und dementsprechend schon eine leichte Verspätung im Gepäck.

"Mist, was hab' ich denn jetzt? Deutsch... Geschichte... ach fuck, Mathe."

Weder Hausaufgaben, noch eine passende Ausrede, wieso sie schon die dritte Stunde in Folge zu spät zum Unterricht erschien, hatte sie parat. Das bedeutete Stress. Und das war das Letzte, was sie jetzt gerade noch gebrauchen konnte. Caro ging schnellen Schrittes zum Raum 223, wo die neugierigen Blicke ihrer Mitschüler und der äußerst Gereizte ihrer Mathelehrerin bereits auf sie warteten.

"Aaach, Frau Erdfelder. Schön, dass Sie uns mit ihrer Präsenz beglücken. Haben Sie demnächst eventuell auch mal vor, dies vor dem offiziellen Beginn der Stunde in Erwägung zu ziehen?"

"Entschuldigen Sie die Verspätung. Der Bus kam nicht."

Dass diese Aussage recht sinnfrei war, da ein deutlicher Teil des Kurses den vorherigen, pünktlich gekommenen Bus bekommen hatte und dieser demnach gefahren war, fiel ihr erst im Nachhinein auf. Egal, Hauptsache sie war da. Anwesend. Caro konnte sich selbst nicht wirklich erklären, wieso sie die letzten Nächte von einigen Schlafproblemen geplagt worden war, Stunde um Stunde wach gelegen hatte und deshalb morgens immer später aufgestanden war. Der einzig plausible Grund dafür konnten nur die Gedanken gewesen sein. Die, die immer dann kamen, wenn man sie nicht brauchte. Nachts, wenn die ganze Welt verstummte und der eigene Kopf dafür umso lauter schrie. Viele Dinge hatten sie in den letzten Wochen beschäftigt. Zum einen stand das Abitur bald an. Natürlich war jeder im Grunde mehr oder minder selbst dafür verantwortlich, wie erfolgreich dieses ablief, dessen war Caro sich bewusst. Deswegen saß sie schon lange an diversen Vorbereitungsmaßnahmen, schrieb Lernzettel wie ein Weltmeister und versuchte sich auch mental auf die große Hürde vorzubereiten. Doch ganz so leicht war es dann doch nicht als Perfektionistin, welche von der ständigen Angst begleitet wurde, zu versagen. Caro war nie ein Mensch gewesen, dessen Persönlichkeit Faulheit hervorbrachte. Ganz im Gegenteil, manchmal machte sie um einiges mehr, als verlangt gewesen wäre. Doch sobald sie eine Niederlage einstecken musste, zweifelte sie stark an ihren Fähigkeiten und an der Tatsache, ihren Aufgaben gewachsen zu sein. Doch das war bei weitem nicht die einzige Sache, die sie wachhielt. Sie war allein. Nicht in dem Sinne, als dass ihr die nötigen Freunde gefehlt hätten, nein. Theoretisch war alles da. Aber auch gleichzeitig nichts. Niemand, der ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Niemand, der ihr versprach, immer an ihrer Seite zu bleiben, unabhängig davon, welche Wendungen ihr Leben annehmen würde und niemand, der sie im Arm hielt, wenn ihr ihre kleine Welt über den Kopf wuchs. Natürlich war das eine Lücke, die auch Freunde hätten füllen können. Doch sie sehnte sich nach Liebe. Nach der einen, bedingungslosen Liebe.

"Carolin!", quietschte eine schrille Stimme quer durch den Raum, "Hören Sie auf zu träumen und erzählen Sie mir stattdessen lieber, welches Ergebnis für Nummer 3 b in Ihrem Heft vorzufinden ist. Versuchen Sie doch zumindest einfach mal, Ihre anfänglich versäumten Minuten aufzuholen. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: In einem viertel Jahr schreiben Sie ihr Abitur, und wenn Sie jetzt nicht..."

Caro schaltete ab, zu oft hatte sie diese Art von Predigt in den verschiedensten Fächern über sich ergehen lassen müssen. Man strengte sich an wo man konnte, und kaum fiel man für einen kurzen Moment raus und war ein wenig neben der Spur, schaffte man seinen gesamten Abschluss nicht. Schon klar. Sie war nun einmal keine Maschine.

"CAROLIN!"

Caro schaute auf die Uhr, fünf Minuten vor Stundenende. Sie packte ihre Sachen in einer Windeseile in ihre Tasche, zog ihre Jacke an und verließ den Raum. Sowas wollte und konnte sie sich einfach nicht mehr anhören. Egal, was die anderen in dem Moment von ihr gedacht haben mögen, sie hielt dem Druck nicht mehr stand. Sie rannte entlang des Schulflurs Richtung Ausgang, da war wohl erstmal niemand mehr, der sie störte. Außerdem war ihr nach frischer Luft zumute. Einige Meter entfernt von der ersehnten Freiheit wurde sie plötzlich von einem sich schnell auf sie zubewegenden Schatten umgestoßen, kurz darauf hörte sie einen lauten Knall. Eine Kiste, deren Inhalt diverse Bücher hervorbrachte, landete direkt neben ihr.

"Um Gottes Willen, es tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen! Darf ich dir hochhelfen?"

Caro konnte Umrisse einer Person erkennen, ebenso wie eine Hand, die sich ihr entgegen streckte. Sie nahm die Hilfe in Anspruch und befand sich in Sekundenschnelle wieder auf ihren Beinen.

"Frau König."

Ihr kam erneut eine Hand entgegen, diesmal jedoch eines für sie deutlich angenehmeren Zwecks wegen.

"Ich bitte nochmal um Verzeihung. Normalerweise habe ich Augen im Kopf, wirklich. Gerade eben aber wohl nicht. Heute ist sowieso nicht mein Tag."

"Kann jedem mal passieren, schon in Ordnung. Danke für's Aufhelf..."

Doch ehe sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte, wurde sie auch schon von einem "Ich muss jetzt leider wirklich los, sonst versäume ich ein wichtiges Gespräch mit dem Direktor. War nett, dich kennengelernt zu haben." inklusive eines freundlichen Lächelns unterbrochen. Schnell schnappte die Lehrerin nach ihren verstreuten Büchern, sowie der Kiste, die sich eben noch neben Caro befand, und rauschte an ihr vorbei. Es schien wohl wirklich wichtig zu sein. Caro drehte sich noch einmal nach ihr um, ehe sie hinter einer großen braunen Holztür am Ende des Ganges verschwand. Die chaotische Art erinnerte sie an sich selbst und ließ sie schmunzeln, sympathisch war der Auftritt in jedem Fall gewesen. Wenn auch recht schmerzhaft. "Das wird wohl ein blauer Fleck", dachte sie, als sie ihre Hüfte vorsichtig abtastete und unter dem stechenden Schmerz, den die Berührung erzeugte, scharf einatmete. Sie kramte ihre Kopfhörer aus der Tasche, öffnete die Musik auf ihrem Handy und verschwand nach draußen.

Try not to fall (TeacherxStudent)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt