10. Kapitel - Kämpferin

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Der Tag in der Schule verlief ruhig, Fiona war nicht da gewesen und ich war bereits wieder auf dem Heimweg.
Mareike war eine Haltestelle vor unserer Schule ausgestiegen, ohne das Mädchen. Auf dem Rückweg war sie nicht im Bus gewesen.

Die Wolken hatten sich wieder verdunkelt und die anfängliche leichte Brise war zu einem starken Wind geworden.
Ich kramte nach meinem Schlüssel und schloss die Tür auf, als mir ein entsetzlicher Schrei entgegen kam. Ich erschrak und schloss die Tür hinter mir.
Ich horchte.
Wimmern, Schluchzen und ein erneuter markerschütternder Schrei.
Ich bekam Gänsehaut und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, während ich die Luft anhielt.
Ich hatte noch nie einen Menschen so schmerzerfüllt schreien hören.
  Es war meine Mutter.

Ich ging die Stufen hoch und hörte sie aus dem Zimmer von Charly.
Sie weinte so heftig, dass sie mich nicht bemerkte, wie ich ins Zimmer kam.
Sie saß verkrampft, wie ein Häufchen Elend auf dem Boden und stützte sich am Bett ab. Wieder schrie sie, rang nach Luft und krallte sich mit der linken Hand in die Brust.
Ich hatte sofort einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen.
  Es tat furchtbar weh, seine Mutter so leiden zu sehen. Ich flüsterte leise und beruhigend, doch sie nahm mich nicht wahr. Als ich meine Hand auf ihren Rücken legte, zuckte sie zusammen.
Ihr ganzer Körper vibrierte unter meiner Hand.
Sie blickte auf und ihr Gesicht ließ mich noch mehr erschrecken.
Ihre Augen waren gerötet, dunkle Augenringe zierten ihre Haut, die Lippen waren aufgerissen und der Rotz lief ihr aus der Nase.
Sie sah einfach nur elend aus.
Ich spürte die Tränen auf meiner Wange. Meine Mutter schluchzte und schaute mich einfach nur an.
Leere.
Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt realisierte, dass ich hier war.

Ich kniete mich zu ihr und sofort drückte sie mich an sich, drückte immer fester zu, atmete heftig.
Sie tat mir weh, sosehr drückte sie.
Sie betastete meinen Körper, fühlte mich.
Sie suchte in mir nach Charly.
Ich wusste, sie stellte sich vor ich wäre sie.
   Aber ich war nicht Charly.
Ich wollte, dass sie aufhörte mich zu drücken. Aber ich konnte mich nicht wehren.
Ich ließ es geschehen, konnte nun am eigenen Leib ihren Schmerz spüren.
  Als ich leise aufstöhnte, ließ sie mich los, sah mir erneut in die Augen.
Ernüchterung.
Sie wusste, dass ich nicht Charly war und sie nicht ersetzen konnte.
Sie öffnete ihren Mund, doch da durchzuckte sie ein erneuter Weinkrampf und ich konnte die Reue in ihren Augen sehen, sah, wie sehr sie litt.
Ich zwang mir ein Lächeln ab und da streckte sie ihre kalte, zitternde Hand nach mir aus und wischte mir die Tränen von den Wangen.

Meine Mutter hatte viele Gesichter und ich wusste, dass sie schon morgen wieder zum Teufel werden konnte, aber jetzt gerade in diesem Moment spürte ich ihren Schmerz und ich ertrug es nicht, meine eigene Mutter in diesem Zustand zu sehen.
Sie wusste nur nicht, dass ich ebenfalls unter dem Verlust meiner Schwester litt, denn sie hatte mir nie die Chance gegeben, richtig zu trauern. Und ich selbst auch nicht. Ich hatte ihr Zimmer gemieden, weil es mich jedesmal darauf hinwies, dass sein Bewohner nie mehr wieder zurückkommen würde.
Diese Erkenntnis zog mir jedes Mal den Boden unter den Füßen weg.
Man sagt, sein eigenes Kind zu beerdigen ist so furchtbar, dass man es keinem wünscht. Aber niemand denkt dabei an die Geschwister, andere Verwandte oder auch an die Freunde.
Niemand bedenkt, dass auch sie leiden.

So sehr ich sie vermisste, ich war stolz auf meine Schwester. Sie hatte es so schwer, hatte so viel gekämpft. Sich auch in ihrem zweiten Kampf gegen den Blutkrebs nicht aus der Bahn werfen lassen. Und selbst als sie begriffen hatte, dass sie den Kampf diesmal verlieren würde, hatte sie jedem noch ein schwaches Lächeln geschenkt. Egal wie schlecht es ihr ging, ein Lächeln hatte sie für jeden übrig.
Mein Vater hatte mir einmal bei einem unserer seltenen Telefonate, während der Zeit als Charly im Krankenhaus und ich bei Onkel Peter war, erzählt wie sie sich während der Chemo übergeben musste und ihn direkt danach dennoch anlächelte.

Und ich war mir sicher, dass sie uns gerade beobachtete.
   Deshalb blickte ich aus dem Fenster und lächelte breit den Himmel an.

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