5. Kapitel - Schluchzen

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Es war dunkel und kalt, als ich in die Tiefe blickte.
Einzelne Lichter rauschten unter mir durch, während meine nackten Füße an dem rauen Beton Halt suchten.
Meine Hände klammerten sich so fest um das kalte Metall eines rostigen Geländers, dass das weiße an den Gelenken hervortrat. Ich hörte Hupen und Siren, eine Stimme, die auf mich einredete, doch deren Sprache ich nicht verstand.
Ich stand einfach nur da, völlig ruhig, nichts konnte mich stören. Die Sirenen wurden lauter, beinahe unerträglich, als jegliche Spannung aus meinem Körper wich und die dunkle Tiefe auf mich zu raste.

    Kurz bevor ich aufschlug, schreckte ich orientierungslos hoch. Mein Puls hatte sich ein wenig beschleunigt und ich atmete tief ein, bis ich die Orientierung wieder hatte. Ich war in meinem Zimmer. Es war furchtbar heiß und ich trug noch die Kleidung, die ich in der Schule anhatte. Der Pullover klebte unangenehm an meinem Rücken und meine Lippen waren ausgetrocknet.
Ich setzte meine Füße auf den Boden und ließ den Traum sacken.
Seit meinem Suizidversuch vor dem letzten Winter, bei dem ich von einer Brücke springen wollte und aber durch die schnelle Reaktion eines Polizisten aufgehalten wurde, hatte ich diesen Versuch noch nie so intensiv wieder erlebt. Zumal ich damals nicht einmal zum Fallen gekommen war, da der Polizist mich festhielt, nachdem ich das Geländer losgelassen hatte. Und ich hatte das verstanden, was er auf mich eingeredet hatte.

Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht und ich wunderte mich, dass meine Eltern mich nicht zum Essen geweckt hatten. Ich öffnete leise meine Zimmertür und starrte auf die Tür mir gegenüber. Es brannte Licht und ich hielt den Atem an. Es war das Zimmer meiner vor neun Monaten an Leukämie verstorbenen Schwester Charly. Ich hörte mein Herz schlagen, spitzte meine Ohren und konnte dann das Schluchzen meiner Mutter hören. Und in diesem Moment glaubte ich, mein Herz brechen zu spüren.
Der Moment hatte mich sosehr betäubt, dass ich nicht merkte, wie ich zu weinen begonnen hatte. Lautlose Tränen, die meine Wangen hinunter liefen. Es tat mir furchtbar leid, dass meine Mutter so leiden musste und ich wünschte mir, ihr den Schmerz irgendwie abnehmen zu können. Egal, wie ekelhaft sie manchmal zu mir sein konnte. Sie war es ja nicht ohne Grund und ich war mir sicher, dass sie das nicht tat, weil sie mich abgrundtief hasste, sondern vielleicht auch einfach überfordert war. Zumindest war das eine Hoffnung. Sie war meine Mutter, sie musste mich lieben oder nicht?
Während meinem Aufenthalt in der Klinik hatte sie mich kein einziges Mal besucht und es war auch ihre Entscheidung gewesen, dass ich nochmal für einige Zeit bei Peter leben sollte, nachdem ich während Charlys Krankheit so gut wie meine ganze Kindheit dort verbracht hatte. Wie abgeschoben. Dadurch konnte ich mich auch nicht so gut an Charly erinnern, denn ich hatte sie ja kaum gesehen. Ihre Stimme durch das Telefon würde ich aber nie vergessen. Wir hatten oft lange Telefonate geführt, aber sie hatte mir nie ihre Ängste und Sorgen erzählt und ich schämte mich unglaublich, nicht für sie da gewesen zu sein. Und obwohl ich so oft mit ihr telefoniert hatte, hatte ich große Angst mich eines Tages nicht mehr an ihre Stimme erinnern zu können.

  Ich strich mir die Tränen weg und starrte den Lichtstrahl an, der unter ihrer Tür hervorkam. Was meine Mutter wohl dort tat? Sich einfach weinend in ihrem Zimmer aufhalten oder ging sie durch ihre Sachen? Ich war seit Charlys Tod erst einmal in ihrem Zimmer gewesen und diese Erfahrung hatte mir für den Moment den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich hatte auf ihrem Schreibtisch eine Zeichnung entdeckt, auf der nur meine Eltern und ich zu sehen waren. Dazu hatte sie geschrieben, dass sie nicht auf dem Bild ist, weil sie im Himmel ist. Die Zeichnung war wunderschön gewesen, weil Charly unglaubliches Talent hatte, aber nie die Chance bekommen hatte, es wirklich auszunutzen.
Während aus ihrem Zimmer erneut schmerzvolle Schluchzer kamen, strich ich mir über das glühende Gesicht, doch die Tränen wollten nicht aufhören, an meinen Wangen hinunter zu laufen. Ich spürte mein Herz in der Brust seinen Dienst vollbringen und dennoch hatte ich das Gefühl, es würde von einer eiskalten Hand zerdrückt werden, als wäre es Sand. Ich fasste mit meiner Hand an die Stelle, an der ich mein Herz wusste und versuchte im Takt zu meinem Herzschlag zu atmen.
Ich ertrug das Weinen meiner Mutter nicht mehr und drehte mich um, um wieder in mein Zimmer zu gehen. Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, entwich mir ein lautes Schluchzen und ich schlug mir die Hand vor den Mund. Ich biss auf meine Lippe, sosehr tat mir das Herz weh.
Dann kniete ich mich auf den Boden, um unter mein Bett sehen zu können.
Ich hatte mir in den Ferien eine neue Tasche für die Schule gekauft und meinen ausgedienten Rucksack unter das Bett geschoben. Und dort war er nun immer noch. Ein wenig verstaubt, aber unverändert. Ich griff entschlossen danach und zog ihn unter dem Bett vor. Mit gerümpfter Nase pustete ich den Staub davon und öffnete dann den Rucksack, um in eines der Seitenfächer greifen zu können. Meine Hände ertasteten, wonach ich gesucht hatte und ein schwaches Grinsen huschte mir unter all den halb getrockneten Tränen über die Lippen.
Als meine Eltern mich nach dem Tod meiner Schwester wieder zu Peter gebracht hatten, hatte ich einige Bilder und andere für mich wichtige Dinge, wie zum Beispiel meine Pokale, mitgenommen.
Peter hatte sich dann eines Tages wieder betrunken und unter Wut mein Zimmer verwüstet, indem er unter anderem meine Pokale zerbrochen hatte und die Bilder von Charly in tausend Einzelteile zerrissen hatte. Damals hatte ich die Schnipsel nicht weggeworfen, sondern sie aufgesammelt und in meinen Rucksack gesteckt. Und dort bisher vergessen.

Schuldbewusst holte ich jeden einzelnen Fetzen hervor und begann, sie zu sortieren. Peter hatte zum Glück nicht so viel Geduld, die Bilder in Zuckerwürfel große Teile zu zerstückeln, sie waren ein wenig größer, dennoch würde es lange dauern, die Bilder wieder zusammen zu puzzeln.
Doch ich machte mich an die Arbeit. Gegen eine lange Nacht hatte ich nichts und ich hatte das Gefühl, das Charly schuldig zu sein.

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