1. Kapitel - Neue Klasse

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Es war mein erster Schultag in derselben Schule wie immer, in einer anderen Klasse. Durch meinen langen Aufenthalt in der Psychiatrie musste ich die letzte Klasse wiederholen und saß nun nervös im Bus und wippte mit dem Fuß. Es fühlte sich an, als würde ich in zehn Minuten in einer komplett neuen Schule ankommen. Alle Leute die ich auf dieser Schule kannte, hatten jetzt ihren Abschluss. Auch Mareike hatte ihre Prüfungen bestanden, obwohl sie das Gefühl hatte, durchgefallen zu sein. Sprich, außer den Lehrern natürlich, kannte ich jetzt kein Mensch.

Als der Bus hielt, brauchte ich erst einige Sekunden, bis ich wieder in der Realität war. Ich packte meine Tasche vom Sitz neben mir und verließ den Bus, während ich sie mir über die Schulter schmiss. Ich ging auf das Schulgebäude mit einem unguten Gefühl zu und betrat die große Aula. Zuletzt hatte ich die Menschenmenge hier um diese Uhrzeit als sehr unangenehm empfunden. Doch heute nahm ich sie nur wahr. Ich nahm wahr, wie die Schüler geschäftig umherliefen und ich nahm wahr, dass ich angerempelt wurde. Ich ging auf eine der großen Pinnwände zu, um die sich die meisten Schüler drängten. Hier waren Klassenlisten aufgehängt. Ich überflog die Listen der zwölften Klassen und fand meinen Namen dann relativ mittig. Nielson, Ema. Mein Klassenzimmer war direkt schräg gegenüber von meinem alten. Also entfernte ich mich wieder von der Pinnwand und ging durch die Flure zu meinem Klassenzimmer. Ich wollte am liebsten umdrehen, auch wenn ich sehr froh über die Chance war, an dieser Schule die letzte Klasse wiederholen zu dürfen. Ich wollte unbedingt einen guten Abschluss. Letztes Schuljahr waren meine Noten ziemlich in den Keller gegangen und ich hatte mir vorgenommen, mich dieses Jahr so anzustrengen, dass ich wieder meinen alten Schnitt, vor der Krankheit, erreichen könnte.
Die Zweifel daran verschob ich eilig, denn ich wusste, dass meine Gedanken um das Essen immer noch 24/7 präsent waren. Ich war doch entlassen worden, weil man mich als gesund erklärte. Also war ich auch gesund. Vielleicht war es normal, dieselben, quälenden Gedanken zu haben wie während der Krankheit.
Total in Gedanken betrat ich das Klassenzimmer und suchte mir einen Platz in der letzten Reihe. Es waren schon einige meiner Mitschüler da, doch ich schenkte ihnen keine großartige Beachtung.
Mit der Hoffnung, unbemerkt geblieben zu sein, huschte ich auf einen der freien Plätze.
Als ich vom Tisch hochsah, bemerkte ich jedoch, wie einige der Mitschüler mich musterten. Keineswegs unfreundlich, sie waren einfach nur interessiert. Aber klar, bisher waren sie eine Klasse gewesen, von Schuljahr zu Schuljahr und jetzt kam ich dazu. Ich fühlte mich unwohl, blickte weg und wünschte mir den Lehrer herbei, um nicht die Zielscheibe aller Aufmerksamkeit zu sein.
Scheinbar wurde mein Wunsch erhört, denn beinahe im selben Moment betrat ein großer, stämmiger Mann den Raum, den ich bisher nie im Unterricht hatte und dessen Namen ich auch nicht kannte.
Er begrüßte die Klasse, stellte sich aber nicht vor, daher ging ich davon aus, dass die Klasse ihn schon kannte. Als er gerade zwecks Abschlussprüfungen etwas erklären wollte, fiel sein Blick auf mich und er kniff die Augen zusammen. Dann hob er die Hand und klopfte sich damit auf die Stirn. „Ach ja. Tut mir leid, natürlich!", lachte er verlegen. „Wir haben ab heute ja eine neue Mitschülerin! Ema, richtig?" Ich nickte und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Er bat mich gerade, an die Tafel zu kommen um mich vorzustellen, als die Tür aufgerissen wurde und ein nicht gerade groß gewachsenes Mädchen den Raum betrat. Sie hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare und sehr helle Haut. „Tut mir leid, Herr Schwarz. Ich hab verpennt.", schnaufte sie und ging entschlossen zwischen den Reihen entlang bis sie verwirrt stehen blieb und sich einmal im Kreis drehte. Ich blickte mich im Raum um. Es waren kaum mehr Plätze frei. Das Mädchen zuckte mit den Schultern und kam auf mich zu, um sich wenig später auf den freien Platz neben mir fallen zu lassen. Sie grinste mich an und blickte mir mit ihren eisblauen Augen in meine. „Beinahe hatte ich gehofft, du hättest dir über die Ferien einen Wecker angeschafft, Fiona. Aber schön, dass du uns wenigstens fünfzehn Minuten nach Beginn des Unterrichts mit deiner Anwesenheit beglückst.", bemerkte Herr Schwarz trocken. Fiona verdrehte ihre Augen und stopfte sich einen Kaugummi in den Mund, dessen Duft in meinen Schleimhäuten brannte.
Herr Schwarz kratzte sich den Bart und schien zu überlegen, wo er stehengeblieben war. Ich grinste innerlich, als er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er mich zur Tafel bat. Also erzählte er über die Abschlussprüfungen und ich lehnte mich entspannt zurück, während meine Mitschüler angestrengt mitschrieben. Ich hatte den Aufschrieb noch vom letzten Jahr und wusste deshalb noch, was auf mich zukommen würde.
Fiona schrieb ebenfalls nicht mit, sondern malte dürre Gestalten mit komischen Grimassen in ein Notizbuch. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, grinste sie und schob mir das Buch zu. Sie zeigte auf eine Zeichnung. Ich erkannte Herrn Schwarz darin, wie er vergeblich versuchte, lustig zu sein. Ich musste leise auflachen.
Als Herr Schwarz dann den ersten Schultag für beendet erklärte, hatte ich nichts von dem mitbekommen, was er gesagt hatte und bekam doch ein schlechtes Gewissen.
Fiona hatte das Zimmer schneller verlassen, als ich schauen konnte und so schulterte ich meine Tasche und verließ den Raum mit den anderen Schülern, als mir ein großes Mädchen auf die Schulter klopfte und im Vorbeigehen „Willkommen in unserer Klasse", sagte. Perplex blickte ich ihr hinterher, freute mich aber über die lieben Worte und hoffte, dass sie auch so gemeint waren. Als ich in der Aula angekommen war, lief Frau Cooper an mir vorbei und ich blickte stur auf den Boden. Es war mir unangenehm, dass ihr mein Gewicht sofort ins Auge gestochen sein musste. Deshalb steuerte ich eilig auf den Ausgang zu und atmete draußen tief die frische Luft ein.
Ich ging mit der Menschenmenge Richtung Bushaltestellen und bemerkte zum ersten Mal, wie fremd mir all die Gesichter meiner Mitschüler waren. War ich die letzten Jahre wirklich so blind durch die Schule gegangen?

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