4: Verzerrte Realität

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„Wie wäre es mit etwas zu essen?" Er nickte heftig und wie auf ein eingespieltes Zeichen knurrte mein Magen. Das Frühstück hatte ich aus Zeitgründen ausfallen lassen und dieser Fehler machte sich nun bezahlt. „Dann deck du den Tisch. Teller sind unten im Schrank und darüber in der Schublade liegt Besteck."

In der Zeit, die Joshua zum Tischdecken brauchte, setzte ich Wasser auf und schnibbelte das restliche Hähnchenfleisch, das ich noch im Kühlschrank hatte. Meine Gewürze beschränkten sich auf Salz und Pfeffer, aber letztendlich war ich ganz zufrieden mit der Soße und auch Joshua wirkte so, als würde ihm mein bescheidenes Gericht schmecken.

„Also", begann ich und schaute von meinem Teller auf. „Die Sache mit dem Werwolfsein lässt mich nicht los ... Wie ... Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll." Aufmerksam beobachtete der Junge mich und meinen hilflosen Versuch zu sprechen. „Wo kommt ihr her?"

„Aus der Stadt."

„Nein, ich meine, woher kommt der Werwolf in euch?"

„Ich verstehe deine Frage nicht. Wir werden so geboren."

„Hier?" Meine Stimme klang heiser.

„Überall", er kratze sich am Hinterkopf. „Aber eigentlich soll ich dir nichts sagen. Ryan und Damian werden sonst wütend und ... sie werden dich umbringen. Das gestern war keine Warnung, sondern ein Versprechen."

Eine Übelkeit überrollte mich, dass mir die Galle den Hals hinaufstieg und sich auf meine Zunge legte. Eisern schluckte ich den Geschmack wieder herunter und räumte beiläufig das Geschirr ab. Ich war nicht sonderlich scharf auf meinen Tod, doch ich wollte mehr über diese Wesen wissen. Eines saß genau vor mir, allerdings weigerte er sich sichtlich, mir seine Geschichte zu erzählen.

„Vermutlich bekomme ich sowieso eine deftige Strafe dafür, dass ich hier bin und dir ihre Namen verraten habe." Er zog die Beine auf den Sitz des Stuhles und umarmte sie. „Sie waren gestern schon wütend. Sie sind immer wütend auf mich."

„Bist du deshalb weggelaufen?"

Mit großen, runden Augen guckte er mich zwischen den blonden Strähnen an. Ich konnte weder seine Nase noch seinen Mund sehen, aber anhand seines Tonfalls merkte ich, wie ängstlich und kindlich er noch war. Irgendwie vergaß ich das über die Tatsache, dass ein gefährliches Tier in ihm wohnte, das es gar nicht geben sollte.

Nach einer Weile nickte er. „Ich mag sie sehr. Sie sind mein Rudel, aber ich darf nichts."

„Sie machen sich nur Sorgen. So ist eine Familie nun mal. Meine Mutter sagt mir auch ständig, ich soll die Jacke nicht vergessen und fragt, ob ich genug esse, obwohl ich seit Monaten allein lebe. Das ist vielleicht nervig, aber so ist die Liebe."

„Ich weiß nicht."

Vorsichtig schob ich meinen Stuhl an seinen und setzte mich. Meinen Arm legte ich über seine dünnen Schultern. Nach kurzem Zögern robbte er an mich heran und umklammerte meine Taille. Ich hielt den Atem an, als er zu schluchzen anfing und strich dann sachte über seinen Rücken. Was könnte ich sagen oder tun, um ihn aufzumuntern?

„Du bist so warm", nuschelte er und kuschelte sich noch dichter an mich. „Damian und vor allem Ryan wollen immer nur, dass ich das mache, was sie mir befehlen. Ich mag dich jetzt schon lieber als sie."

Ich tätschelte seinen Kopf und richtete mich auf, was ihn nicht davon abhielt, sich weiter an mich zu klammern. Er hing halb auf dem Stuhl und halb in der Luft, musste darüber selbst lachen und vergaß die negativen Gedanken.

Damian und Ryan hießen die zwei ominösen Männer also, überlegte ich beim Abwasch. Joshua würde ich für heute in Ruhe lassen. Mit meinen Fragen stellte ich ihn nur vor weitere Entscheidungen, die ein Kind in seinem Alter noch nicht fällen sollte; immer im Hinterkopf die Androhung meines Todes, die für ihn bestimmt ebenso furchteinflößend war wie für mich selbst.

Paws on GlassWhere stories live. Discover now