Kapitel 5

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Ein Klingeln riss Linda aus einem beklemmenden Traum von Wölfen in dunklen und leeren Räumen. Verwirrt blickte sie auf ihr Handy. Es war halb acht in der Früh. Der Fernseher lief noch. Sie musste auf dem Sofa eingeschlafen sein. Es klingelte erneut. Wer zur Hölle war das? Der Postbote vielleicht? Aber es war Sonntag.

Verschlafen torkelte sie zur Tür und blickte auf den kleinen Monitor, der zum überteuerten Alarmsystem gehörte. Zu sehen war kein Postbote, sondern die durchtrainierte Gestalt von Steve Reed aus dem Tierheim.

»Ach du ...« Ihr Herz begann einige Takte schneller zu schlagen. Sie drückte auf den Knopf, der das Tor öffnete und suchte hastig nach einem Spiegel. Ein großer Fehler! Auf ihrem blauen T-Shirt prangte ein alter Eisfleck von vor zwei Tagen und ihre braunen Haare standen zu allen Richtungen ab, als hätte sie in eine Steckdose gefasst.

Dazu kamen ihre Augen, die von Mascararesten umrandet waren. Sie sah aus wie ein Pandabär!

»Das wird peinlich«, murmelte sie und öffnete die Haustür, bevor der morgendliche Gast anklopfen konnte.

Statt der schmutzigen Arbeitskleidung trug er ein schwarzes Poloshirt und eine knielange khakifarbene Hose.

Bei ihrem Anblick stutzte er einen kurzen Moment, setzte aber sofort wieder sein charmantes Lächeln auf.

»Hi, Linda.«

»Steve, was machen Sie denn hier?« Sie konnte nichts gegen den misstrauischen Unterton in ihrer Stimme tun.

Woher wusste er, wo sie wohnte?

»Wir hatten gestern nicht so viel Zeit gehabt, uns zu unterhalten, da dachte ich, ich lade Sie heute zum Frühstück ein.«

Sein Lächeln sah komisch aus. Anders als gestern.

»Das ist sehr lieb von Ihnen, aber woher wussten Sie, wo ich wohne?«

Wieder verrutschte das Lächeln für eine Sekunde.

»Sie hatten doch meiner Mutter Ihre Adresse gegeben.«

Unsicher wich sie etwas zurück. Ihre Brust zog sich unangenehm zusammen. »Das stimmt, aber das war die von meiner Wohnung. Diese Adresse hier kennt niemand.«

Steve seufzte lautstark. »Na gut, Sie haben mich erwischt.« Er zuckte ergeben mit den Schultern. »Ich habe erfahren, dass Sie Maria Salvatore eine großzügige Spende zukommen lassen haben. Daraufhin habe ich ein paar Nachforschungen angestellt und siehe da. Hier stehe ich nun.«

Sie schluckte schwer.

»Sie haben mit Maria gesprochen?« Hatte sie Maria so falsch eingeschätzt? Sie war ihr nicht wie jemand vorgekommen, der Lindas Spende an die große Glocke hängte.

»Nicht direkt mit Maria«, erklärte er. »Ich hatte ein nettes Gespräch mit einer Mitarbeiterin. Eine junge Frau war in einem roten Auto morgens vom Hof gefahren und kurz darauf wurde ein Umschlag mit sehr viel Geld im Briefkasten gefunden. Eine anonyme Spende.«

Steve musste Lindas Verunsicherung bemerkt haben, denn er hob schnell die Hände.

»Denken Sie nicht, dass ich hier bin, um ebenfalls eine Spende zu erhaschen. Ich wollte einfach nur mit der großzügigen Dame reden und Sie näher kennenlernen. Es gibt wenige Leute, die sich so für Tiere einsetzen. Ich muss zugeben, dass ich Sie bewundere.«

All seine Worte klangen plausibel, wenn da nicht dieses Lächeln wäre.

»Das ist nett von Ihnen, wirklich, aber eigentlich wollte ich nicht, dass jemand erfährt, wer ich bin.«

»Sie meinen Linda Stirling, die Erbin von Thomas und Martha Stirling, Besitzerin einer Villa und mehreren Millionen Euro? Das ist doch nichts, wofür man sich schämen müsste. Warum tun Sie das? Mit den Spenden? Sie sind noch so jung. Wollen Sie nicht lieber Reisen und irgendwelche Dinge kaufen, wie ein neues Auto?« Er deutete auf ihren alten Golf in der Einfahrt. Trotz des Geldes ihrer Eltern wollte sie kein teures Auto fahren, aus dem gleichen Grund wie sie nicht wollte, dass Leute wussten, wer sie wirklich war. Man wurde einfach anders behandelt.

»Wozu?«, fragte Linda abwehrend. »Das Auto fährt hervorragend. Reisen möchte ich auch nicht, denn ich habe hier alles, was ich brauche...«

»Aber ist es hier nicht etwas langweilig so ganz alleine?«, unterbrach er sie.

Beim letzten Wort versteifte sie sich augenblicklich.

»Es ist meine Entscheidung, was ich mit meinen Leben anfange, Steve.«

Sie sah, wie er seinen Kiefer aufeinanderpresste. Trotzdem zwang er sich weiter zu diesem grässlichen Lächeln. »Linda, an ihrer Stelle würde ich...«

Seine Stimme rückte in den Hintergrund, während sich ein vertrautes Gefühl in ihr ausbreitete. Es war, als würde Steve langsam die Fäden in die Hand nehmen und anfangen sie zu steuern. Nur so war sie nicht mehr. Niemand würde sie steuern. Es war ihr Leben. Ihr Eigenes.

»Steve«, unterbrach sie ihn. »Es war sehr schön, Sie zu sehen, aber ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«

Sie wich ins Haus zurück und schloss die Tür. Im letzten Moment stoppte ein sandiger Schuh ihr Vorhaben.

»Linda«, hörte sie die missbilligte Stimme von Steve. Langsam aber kraftvoll drückte er die Tür wieder auf. Erschrocken riss sie die Augen auf. Was hatte er vor? Sein Gesicht kam zum Vorschein und statt des falschen Lächelns, grinste er boshaft. Ihr Herz begann zu hämmern. Übelkeit stieg in ihr hoch.

»Linda, Linda, Linda. Sie sollten einen Mann wie mich nicht abweisen. Das tut Ihnen nicht gut.«

Ihre Beine waren wie festgefroren. Sie musste hier fort, aber es ging nicht. Steve kam langsam näher und packte ihr Handgelenk. Schmerz durchzuckte den Arm.

Sie keuchte auf, begann sich zu wehren, schrie, obwohl niemand da war, der sie hören konnte. Panisch trat sie nach ihm und erwischte sein Schienbein. Ihre Nägel kratzten über seine Wange. Laut fluchend warf er sie auf den Boden. Linda knallte mit dem Kopf auf die Fliesen und sah einen Moment Sterne. Für Erholung blieb keine Zeit. Er zerrte an ihren Haaren und riss ihren Kopf in die Höhe. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt. Eine verzerrte Maske aus Zorn und Wahnsinn - dann war sie fort. Die Hand in ihren Haaren ebenfalls. Überrascht fiel sie nach hinten und blinzelte einige Male, bis sie das vertraute Knurren hörte.

Teddys mächtige Gestalt stand über Steve. Er hatte seine Kehle gepackt.

»Teddy!« Zu ihrer Erleichterung mischte sich erneut die Angst. »Teddy, bring ihn nicht um!«

Langsam stand sie auf. Ihr Kopf schmerzte höllisch, trotzdem konnte sie klar genug denken. »Ich rufe die Polizei, die kümmern sich um ihn. Aber wenn du ihn umbringst, dann jagen sie dich.«

Ein wilder Wolf tötet einen Mann. Die Stadt würde erst Ruhe geben, wenn der Wolf tot am Boden lag.

Tatsächlich bewirkten ihre Worte etwas. Teddy ließ zwar nicht los, aber soweit sie sehen konnte, hielt er Steve nur fest, statt seinen Hals zu zerquetschten.

Nach einigen tiefen Atemzügen ging Linda zittrig zum Sofa, um ihr Handy zu holen. Steve starrte den Wolf aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Wangen waren nass von Tränen und Wolfssabber. Seine Hose auch, aber dafür gab es einen anderen Grund.

Sie schluckte schwer, als sie das erste Mal in ihrem Leben den Notruf wählte.

Zehn Minuten später liefen in ihrem Haus vier Polizisten umher. Sie beäugten abwechselnd Steve und Teddy. Aber am Ende wurde Steve abgeführt und Linda konnte ihre Anzeige machen.

Erst als sie wieder alleine war, brach sie zusammen. Teddy leckte ihr mitfühlend über das Gesicht ab. Dieses Mal stieß sie ihn nicht fort. Sie schluchzte leise und vergrub ihre Finger in seinem Fell - bis ihr vor Erschöpfung die Augen zufielen.


Der Wolf und das MeerKde žijí příběhy. Začni objevovat