Kapitel 4

7 2 0
                                    

»Weißt du, worüber ich heute nachgedacht habe?«

Teddy sah sie nicht an, zuckte aber mit den Ohren.

»Ich bin sechsundzwanzig und hatte noch nie einen Freund.«

Nun sah er sie doch an. Beinahe überrascht, wenn das bei Wölfen überhaupt möglich war.

»Wirklich! Andere sind in meinem Alter verheiratet, haben Kinder. Ich habe noch nicht mal jemanden geküsst!«

Als Antwort schleckte er ihr plötzlich über die Wange. »IIhh, hör auf!« Angewidert wischte sie sich die Sabber fort. »Das ist ja ab...«

Erneut landete die lange Zunge in ihrem Gesicht. Kreischend und lachend wich sie zurück. Teddy setzte ihr nach, bis sie am Boden lag und sich schützend die Hände auf das Gesicht presste. Nachdem auch die mit Wolfssabber bedeckt waren, ließ er endlich von ihr ab. Linda spähte zwischen den Fingern hindurch. Der Wolf stand mit heraushängender Zunge über ihr und wedelte freudig mit dem Schwanz.

»Vielen Dank dafür!« Sie warf die Hände dramatisch in die Luft. »Auf meinem Grab wird stehen: Ihren ersten und auch letzten Kuss verdankte sie einem stinkenden Wolf!«

Teddy knurrte protestierend.

»Tut mir leid, aber das ist die Wahrheit. Du hast Mundgeruch. Ich wäre beinahe erstickt!«

Er jaulte kurz auf, bevor er sich beleidigt niederließ. Quer über ihre Beine!

»Hätte ich dich anlügen sollen?« Als Antwort drehte er nur den Kopf von ihr weg. Zum Glück konnte er so ihr Grinsen nicht sehen.

»Habe ich jetzt den großen bösen Wolf namens Teddy beleidigt?« Ihre Stimme triefte nur so vor Spott. Sie wusste, dass er jedes Wort verstand und ihn der Spitzname ärgerte.

Nun zwickte er Linda leicht ins Bein. Es tat kaum weh, trotzdem zuckte sie zurück. Soweit es überhaupt ging, mit hundert Kilo auf den Beinen.

»Das ist unfair! Lass mich frei!« Er rührte sich keinen Millimeter. Das sollte anscheinend ihre Strafe sein.

»Teddy, du zerquetscht mich.« Das stimmte nicht ganz, aber vielleicht ließ er sie so frei. Zu früh gefreut. Sie spürte, wie er sich noch schwerer machte und ihre Beine anfingen, zu kribbeln, weil kein Blut mehr hindurchfließen konnte.

»Okay, okay, okay!« Kapitulierend hob Linda die Hände. Teddy musterte sie.

»Es tut mir leid. Ich bin im Unrecht. Dein Atem riecht wie eine blühende Rose. Nein, wie eine ganze Blumenwiese an einem sonnigen Frühlingstag!«

Der Wolf rührte sich nicht und Linda fürchtete schon, ihre Beine würden absterben. Schließlich richtete er sich doch auf, streckte sich und setzte sich an den Rand der Düne.

Linda stockte. Es war ein wunderschöner Anblick, selten und ungewohnt aber wunderschön. Der Wolf und das Meer. Ein Inbegriff der Freiheit.

Mit einem Mal überkam sie eine Idee. Sie massierte ihre Beine, damit das Blut wieder zirkulierte, und sprang auf.

»Bleib genau hier sitzen, okay?« Teddy sah sie an.

»Genau so!«, wiederholte sie nachdrücklich. »Ich bin gleich wieder da.«

Eilig rannte Linda zum Haus. Als sie zurückblickte, saß er weiterhin an der gleichen Stelle und betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. Sie winkte ihm zu und eilte durch die Tür. Polternd nahm sie die Treppe bis in die zweite Etage. Ihr altes Kinderzimmer war unverändert, bis auf die Reisekoffer, die unordentlich im Raum verteilt waren. Hektisch langte sie unter das Bett und zog alles, was sie finden konnte hervor.

Am Ende sah sie zufrieden auf ihre Beute. »Perfekt!«

»Nicht bewegen, habe ich gesagt!«

Teddy winselte leise, rührte sich aber nicht weiter.

Linda saß wieder neben ihm. Vor ihr eine kleine Staffelei mit einer weißen Leinwand. In der einen Hand einen Pinsel und in der anderen die Ölfarben-Palette.

Früher hatte sie es geliebt zu malen. Obwohl die Bilder nicht schlecht waren, hielten ihre Eltern es für brotlose Kunst. Sie hatte es meist heimlich getan, um die beiden nicht zu verärgern. Im Studium war dann kaum noch Zeit gewesen, sodass sie ihr einziges, eigenes Hobby nicht weiterverfolgt hatte. Aber jetzt besaß sie Zeit im Überfluss. Keine Eltern, keine Termine, keine Uni. Vor ihr ein perfektes Motiv und schon bald nahmen die ersten zarten Striche Form an.

Das Meer, der Strand, das Schilf und der wunderschöne dunkle Wolf.

Linda malte, bis die Sonne unterging und sie kaum noch etwas sehen konnte.

»Du warst ein geduldiges Modell, lieber Wolf.« Sie drehte die Staffelei um und zeigte ihm das Bild. Zustimmend jaulte er auf und begann sich ausgiebig zu strecken.

Sie war erschöpft. Erschöpft aber glücklich.

»Wie ich das vermisst habe.« Strahlend umarmte sie ihren Freund und gab ihm einen Schmatzer auf den Kopf.

»Danke, Teddy.«


Der Wolf und das MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt