Caskett

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"Sie können schreiben 'Für Johanna'", erklang eine liebliche Stimme, die Castle aufhorchen ließ. Er blickte zu einer jungen Frau herauf, nicht älter als 20, die mit ausdruckslosem Gesicht vor ihm stand und ihr Buch hinhielt. Ihre langen, dunklen Haare hatte sie zu einem Zopf hochgebunden, der einen kleinen Kratzer an ihrem Hals entblößte, und ihre grün-braunen Augen sahen ihn an. Im Gegensatz zu den anderen Frauen in der Schlange waren ihre Augen völlig von Glanz befreit, sie strahlten nicht und auch wirkte sie nicht glücklich, ihn zu sehen. Es schien ihm, als wollte sie gar nicht hier sein. Als wäre sie in Gedanken an einem ganz anderen Ort. Wieso haben Sie sich stundenlang in die Schlange gestellt, um ihr Buch signieren zu lassen, wenn Sie es eigentlich gar nicht wollen? , fragte Rick in Gedanken, doch natürlich kam seine Frage nicht bei ihr an. Es wäre auch zu viel des Guten gewesen, wenn er endlich jemanden gefunden hätte, der in der Lage sei, Gedanken zu lesen.

Trotz aller Verwunderung bemerkte er ihre Schönheit, die jedoch durch ihre ausdruckslose Art etwas unterging, als sie das unterschriebene Buch von ihm zurücknahm und ohne ein weiteres Wort davon ging. Er blickte ihr - Johanna - interessiert hinterher, doch nach wenigen Sekunden war sie aus seinem Blickfeld verschwunden.

In Gedanken versunken fragte er die folgende Frau: "Für wen darf ich signieren?"

Jedes Mal, wenn einer der weiblichen Wesen vor ihm ihre Begeisterung gegenüber seiner Werke und auch ihm äußerte, lächelte er charmant, doch in Gedanken war er immer noch bei Johanna. Er versuchte sich jedes Detail in Erinnerung zu rufen, damit er sie nie vergessen würde: Sie war vollständig in schwarz gekleidet gewesen, an ihrem linken Handgelenk hatte sich eine ebenfalls schwarze Uhr befunden, doch meinte er sich zu erinnern, dass an ihrem Hals das silberne Band eine Kette geglitzert hätte, die jedoch größtenteils unter ihren Klamotten verborgen geblieben war. Abgesehen von ihrer blassen Haut schien es das einzig Helle an ihr zu sein.

Wenn eine Frau vor ihm die Aussage bestärkte, dass sie sein größter Fan sei, schwoll seine Brust nicht wie sonst immer vor Stolz an. Stattdessen fragte er sich, wieso die mysteriöse Johanna nicht wie alle anderen in der Schlange gewesen war.

Nachdem die letzten zehn Minuten der Signierstunde vorüber gegangen waren - sie erschienen ihm wie eine Ewigkeit - , verabschiedete Castle sich schnell von den Mitarbeitern und seiner Verlegerin, die wie immer alles organisiert hatte, und verließ schnellen Schrittes das Gebäude. Auf der dicht befahrenen und begangenen Straße schoss ihm ein einzelner Gedanke durch den Kopf: New York-City ist eine Millionenstadt; Millionen Einwohnern; die Chance, dass er sie je wieder sehen würde, stand eins zu mehreren Millionen. Selbst er, der aufmerksamer als die meisten anderen Bürger durch die Straßen lief, würde eine einzelne Frau nie wieder sehen.

Dieser Gedanke stimmte Rick traurig. Zuvor war in ihm noch nie der Wunsch aufgekommen, sie oder eine andere Frau von der Signierstunde wieder zu sehen - selbstverständlich flirtete er mit vielen, aber ein wirklicher Wunsch war nie entstanden - , aber jetzt, da es ihm unmöglich erschien, je wieder ihre Anwesenheit genießen zu können, war er so enttäuscht und frustriert wie noch nie, nachdem er eine Stunde umgeben von seinen treuen Fans verbracht hatte.

Mit hängenden Schultern lief er einige Schritte, doch eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ ihn innehalten. Sofort drehte Castle sich um. "Ein Vogel", murmelte er ziemlich enttäuscht, "nur ein Vogel."

Dennoch blickte er dem hüpfenden Kerlchen nach, das sich zwitschernd einer Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite näherte.

Und da sah er sie. Johanna. Das Buch in ihren Händen, ihr Kopf seinem Einband zugewandt; so saß sie da. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und wurden nun vom Wind in ihr Gesicht geweht. Es machte ihr anscheinend nichts aus. Sie wirkte so unschuldig, zerbrechlich, aber zur gleichen Zeit auch so unglaublich stark und unermüdlich.

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