„Wie genau soll das noch mal funktionieren? Wissen die anderen schon, dass eigentlich du singen sollst, oder nicht oder...", fragte meine Mutter und versuchte gleichzeitig, etwas Sourcreme auf ihrem Finger an einer Kartoffelscheibe abzuwischen. 

„Mein Teller!", beanspruchte ich die Bratkartoffeln für mich, die sie verschont hatte, und lief voraus ins Wohnzimmer. 

Wenn wir beiden alleine aßen, verzogen wir uns am liebsten aufs Sofa, wo Mama mir dann lang und breit ihre Geschichten zu jeder CD erzählen konnte, die sie aus dem Regal zog. Meistens handelte es sich dabei natürlich um welche von A, B, B und A. 

„Jasmin und Lea haben geplant, Cariba irgendwie bei der letzten Probe am Donnerstag zu überrumpeln. Eine der beide weiß nämlich irgendwo her, dass das Mädchen, das sie eigentlich engagiert haben, nicht kommen kann und da komme ich dann ins Spiel." 

„Also bist du die letzte Rettung", interpretierte Mama vergnügt. 

„Ach, keine Ahnung", seufzte ich. „Ich weiß sowieso nicht, wie Lea das anstellen will. Und ich will auch gar nicht drüber nachdenken. Hauptsache, ich verkrieche mich bei Caribas Blicken nicht gleich hinterm nächsten Verstärker." 

„Wie geht's eigentlich Theodor?", fragte sie weiter. 

„Wie machst du das nur", murmelte ich halblaut. Mama hörte mich zum Glück nicht, da sie schon begonnen hatte, ihre CD-Sammlung zu scannen. Es war mir absolut rätselhaft, wie sie es schaffte, den Großteil des Tages zwischen ihren Pflanzen zu verbringen und dann trotzdem zu erkennen, dass ich wegen Theo so mies drauf war. 

„Das wüsste ich auch gern", schnaubte ich, „aber das ist gar nicht so leicht festzustellen, wenn ich ihn nie zu sehen bekomme. Er geht noch nicht mal an sein Handy. Mir jedenfalls geht's beschissen." Um meinen Standpunkt zu unterstreichen, attackierte ich ein paar Bratkartoffeln. 

„Ach June, vielleicht hat er gerade viel für die Schule zu tun. Oder er muss viel arbeiten. Er jobbt doch jetzt in diesem Café in der Stadt, oder?" 

„Ja, oder er muss seine Marslandung vorbereiten. Oh bitte, er wird zwischendurch allemal noch duschen müssen. Und wenn er das kann, müsste auch etwas Zeit für mich drin sein. Finde ich." 

„Da hast du irgendwie Recht. Obwohl du ihm schlecht vorschlagen kannst, sich mit dir zu treffen, statt zu duschen", gab meine Mutter zurück. 

„Da- a- hmm..." Anstelle eines lahmen Gegenarguments atmete ich schnaubend aus. 

Bisher hatte ich eigentlich gedacht, dass ich ganz gut umgehen konnte mit der Funkstille zwischen Theo und mir. Den Umständen entsprechend halt. Als ich allerdings mitten in der Nacht aufwachte, völlig durchgeschwitzt und mit rasendem Herzen, zog ich in Betracht, das Ganze nochmal zu überdenken. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, fiel mir auf, dass nicht nur mein Schlafanzug feucht war (vom Schweiß, wohlgemerkt), sondern auch meine Wangen. Und da kam die Erinnerung an meinen Traum mit einem Schlag zurück. 

Ich hatte geträumt, in einem See zu ertrinken. Obwohl es mich immer tiefer zog, konnte ich ihn dennoch klar und deutlich erkennen. Theo stand am Rand einer kleinen Insel in der Mitte des Sees und sah traurig aufs Wasser hinaus, wo mir gerade die Luft ausging. Weil es schon längst nach Mitternacht war und ich gerade so einen aufrichtigen Moment hatte, konnte ich mir auch eingestehen, dass es sich dabei um den See handelte, an dessen Ufer Theo und ich zum ersten Mal Händchen gehalten hatten. 

Je länger ich drüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass ich nicht im Schlaf geweint hatte, weil ich gerade zu einer Wasserleiche wurde, sondern wegen des Ankers, der neben Theo im feuchten Sand lag. Wie war mein Unterbewusstsein denn bitte darauf gekommen, einen Anker in meinen Traum einzubauen? Wenn ich wieder etwas mehr ich selbst war, würde ich mal googeln, was Traumdeuter zum Symbol Anker zu sagen hatten. Aber erstmal brauchte ich dringend seelischen Beistand. Ich griff nach meinem Handy auf dem Nachttisch und tippte blind vor Tränen auf eine der Nummern, die ich unter Favoriten abgespeichert hatte. Nach dem elften Klingeln ging Lea mit einer Mischung aus Grunzen und Stöhnen dran. 

"Lea? Ich glaube, das zwischen Theo und mir ist gestorben. Wortwörtlich." Beim jämmerlichen Klang meiner krächzenden Stimme hätte ich schon wieder heulen können. 

"Wa- hä? June, bist du das? Okay, so viele Theos kenne ich nicht, also bist du es. Sag mal, weißt du, wann mein Wecker klingelt? Nicht um diese Uhrzeit, so viel ist sicher." 

Ich sagte erstmal nichts, erschrocken über ihre forsche Reaktion. Normalerweise hätte ich dementsprechend gekontert, aber wie Lea schon sagte, es war irgendwo zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens und ich hatte gerade einen Alptraum gehabt. Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich sie angerufen hatte, und erzählte ihr ziemlich zusammenhangslos vom Anker. 

"Meinst du, das bedeutet, dass er mich anrufen will, aber nicht kann? Weil ihn etwas daran hindert? Der Anker könnte so etwas in der Art bedeuten. Vielleicht hat er... meine Handynummer verloren?" 

"June, Süße, das hier ist nicht High School-Musical, heutzutage verliert niemand mehr irgendwas auf seinem Handy." Ich konnte jetzt zumindest eine Spur Mitleid aus Leas Stimme heraus hören, wesentlich wacher schien sie trotzdem nicht zu sein. 

"Lass uns die Traumdeutung auf morgen verschieben, ja? Gute Nacht. Oder guten Morgen." Mit diesen Worten legte Lea auf und ließ mich zurück mit meinem Handy und einer ordentlichen Portion Selbstmitleid als Gesellschaft. 

Ich schlief dann aber doch schnell wieder ein, was ich daran merkte, dass ich eine halbe Stunde später erneut hoch schreckte. Diesmal allerdings nicht wegen eines Traumes, meine Fantasie war wohl selbst zu erschöpft gewesen, um sich noch mehr Gruselstoff auszudenken. Nein, diesmal war es das vibrierende Handy gewesen, das immer noch in meiner Hand lag. Die Nummer auf dem Display sagte mir, dass Lea wohl doch nicht gleich wieder eingeschlafen war. 

"Ich dachte, du brauchst deinen Schönheitsschlaf?", fragte ich statt einer Begrüßung. Um diese Uhrzeit brauchte man solche Höflichkeiten nicht. Immerhin stellte ich fest, dass ich schon nicht mehr so jämmerlich klang wie bei unserem letzten Telefonat. Vielleicht hatte die knappe halbe Stunde Schlaf ja Wunder gewirkt und mein Selbstwertgefühl wieder aufgebaut. 

"Ja ja, scheiß drauf. Ich hab deinen Anker gegoogelt. Dafür musste ich aber erstmal zwei Treppen runter laufen, um das WLAN anzumachen, nebenbei bemerkt." 

"Warum das denn?", fragte ich verdutzt. 

"Ähhh, weil mein Bett im zweiten Stock steht? Alles klar bei dir, June? Du weißt doch, was meine Eltern für einen Stress machen wegen der ach so bösen Strahlung." 

"Warum du den Anker gegoogelt hast, man. Ich dachte, das wollten wir erst in ein paar Stunden machen." 

"Na ja", druckste Lea rum, "ich hatte auch mal so einen beängstigenden Traum, weißt du. Irgendwas mit brennenden Igeln und Muscheln. Ich habs aber verdrängt und als es mir dann ein paar Wochen später wieder eingefallen ist, hatte ich erst recht Schiss. Deshalb bringen wir das mit deinem Anker gleich hinter uns." 

"Oh." Ich war ganz gerührt von Leas Einfühlungsvermögen so früh am Morgen. "Und was bedeutet er?" 

"Ich lese vor: Der Anker steht in der Traumdeutung für Sicherheit und Standhaftigkeit. Dann noch irgendwas mit Anker auswerfen, Ruhepol in stürmischen Zeiten, also home is where your anchor is, oder was? Klingt doch schon mal nicht schlecht." 

"Hmmm." "Ich geh noch mal auf eine andere Seite, ja? Oh, hier steht... was anderes." Es entstand eine Stille, die trotzdem genug sagte. 

"Was steht denn da, Lea?" 

"Für Liebespaare bedeutet der Anker Streit." 

"Oh." 

"Aber hey, der ganze Rest ist doch total positiv. Außerdem lässt sich sowas doch immer in alle möglichen Richtungen auslegen. Meine Wahrsager-Tanten biegen sich solche Zeichen auch immer so zurecht, wie sie es gerade brauchen. Also konzentrierst du dich einfach auf die guten Aspekte und den Rest ignorieren wir, ja?" 

"Okay. Danke, Lea", murmelte ich nach ein paar Sekunden. Es ging mir mittlerweile besser als direkt nach dem Traum, aber so dolle war das mit der Deutung nun auch wieder nicht gewesen. Aber Lea hatte schon Recht, es wäre schlicht blödsinnig, zu viel in so einen Wischi-Waschi-Kram zu legen. 

"Dann bis in vier Stunden!" Lea legte auf und ich schaltete mein Handy diesmal ganz aus, damit mich nichts mehr um die letzten Stündchen Schlaf brachte.

Wenn Regen fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt