🌺 DREI *

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Ich dachte ich hätte wenigstens die Alpträume hinter mich gelassen. Da täuschte ich mich gewaltig, denn in den nächsten Wochen nahmen sie wieder zu. Jede Nacht wachte ich schreiend und schweißgebadet auf. Jede Nacht rief ich nach Nathan. Warum waren sie auf einmal wieder so heftig? Sie waren doch nach der Beerdigung schwächer geworden.

Herrn Adams erzählte ich bei unserem nächsten Treffen widerwillig kurz und knapp davon und er meinte darauf, dass es mit der Erkenntnis zusammenhängen würde, dass nicht nur ich einen geliebten Menschen verloren hatte. Durch das Gespräch mit Ty wäre das ausgebrochen. Also würde ich nun mein Leben lang von Alpträumen heimgesucht? Na dann besser gar nicht mehr schlafen.
Oder aber es könnte daran liegen, dass ich ein Gespräch von Ty mitbekommen hatte, was Herr Adams natürlich nicht wusste.
Ich wollte nicht lauschen, aber ich stand in der Küche und das Fenster war offen und Ty parkte auf dem Hof, genau vor dem Fenster, und telefonierte. An sich ja nichts Weltbewegendes, jedoch war er ziemlich aufgebracht und ich bekam auch nur Wortfetzen mit, vielleicht interpretierte ich da zu viel rein und es hatte etwas mit der Firma zu tun, aber ein Wortfetzen ließ mich stutzig werden.
"Überlebende?"
Mehr war da nicht und da Ty nicht gesprächig aussah, hielt ich lieber die Klappe.
Dieser Vorfall ereignete sich drei Tage nach Tys 'Zusammenbruch' und er machte keine Anstalten mir davon zu erzählen und irgendwie traute ich mich auch nicht ihn darauf anzusprechen. Denn erstens wusste er dann, das ich gelauscht hatte und zweitens würde dann die aufkeimende Hoffnung eventuell wieder im Ansatz erstickt werden. Wollte ich das? Wahrscheinlich hatte es aber auch gar nichts mit dem Verschwinden zu tun. Vielleicht hatte ich mich einfach verhört.
Gedanken brauchte ich mir darüber nicht mehr großartig machen, denn als die Kids freitagabends bei meinen Eltern waren, rückte Ty mit der Sprache heraus. Hätte er es doch lieber gelassen oder nicht?
Wir hatten gerade zu Abend gegessen und ich räumte das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, da erklang seine Stimme: "Leyla, setz dich bitte kurz. Ich muss dir was sagen." Tys Stimme klang kaputt, fertig, angespannt - also alles nur nicht positiv. Mir wurde übel.
"Leyla, setz dich bitte."
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass ich mich noch nicht in Bewegung gesetzt hatte. Erst nach der dritten Aufforderung und einer Hand, die mich zum Stuhl zog, gehorchten meine Beine und mein Gehirn verstand sich endlich meinen Beinen mitzuteilen und auf den Stuhl zu setzen. Meine Hände zitterten und schwitzten. Ich war in Alarmbereitschaft, alles in mir spannte sich an und ich sah Ty mit großen Augen an.
"Leyla, es gibt neue Erkenntnisse... Nathans Maschine ist niemals abgestürzt... Sie wurde entführt, vermutlich von Terroristen..."
Kein Absturz, Entführung, Terroristen. Mein Hirn versuchte aus den gerade gewonnen Informationen einen brauchbaren Inhalt zu erschaffen und wiederholte in einer Tour diese vier Worte, doch mein Kopf konnte sie einfach nicht packen, nicht verarbeiten. Was bedeutete das alles?
Das dumpfe Gefühl kam stärker wieder als vorher und ich hörte ganz weit weg Ty sprechen.
"Sie atmet wieder nicht mehr...Ja ins Krankenhaus...Ich fahre mit..."

Drei Tage vergingen bis ich wieder halbwegs ansprechbar war, denn wie die Ärzte mir dann mitteilten, hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Der Auslöser war die Erkenntnis, dass die Maschine entführt wurde und in meinem Kopf Bilder auftauchten in denen Nathan gefoltert oder sogar hingerichtet wurde. Diese Bilder gaben mir und meinem kaputten, ausgelaugten Körper einfach den Rest. Für die Ärzte grenzte es sowieso an ein Wunder, dass ich so lange ausgehalten hatte. Durchgehalten war wohl das passendere Wort. Ich war mir sicher, dass ich es nicht so weit geschafft hätte, wenn meine Kinder nicht gewesen wären. Sie waren es, die mich jeden Tag am Leben hielten, aber das sagte ich niemandem. So wie die mich alle ansahen, wussten sie es so oder so schon.

Eine Woche wurde ich zwangsernährt, damit ich mal wieder was auf die Rippen bekam. Das waren die Worte der etwas molligen Ärztin, sicher nicht meine. Tristan und Sophie kamen mich, ihre kaputte Mama, jeden Tag mit meinen Eltern besuchen. Für die beiden würde ich weiterkämpfen, immer und immer wieder, das war ich ihnen schuldig.
Sie sollten mich nicht so sehen. Das hatten sie nicht verdient. Doch sie hielten sich tapfer und erzählten von ihrem Tag. Sie waren viel stärker als ich.
Eines morgens verkündete mir ein übermotivierter Arzt, dass ich noch mit den Therapeuten reden müsste und dann würde einer Entlassung nichts mehr im Wege stehen. Doch genau das war der Knackpunkt. Ich wollte mit niemandem reden. Die sollten mich alle in Ruhe lassen und nach Hause schicken.
Darauf ließen sie sich aber nicht ein und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Ty da seine Finger im Spiel hatte, aber ich sagte nichts, sondern bestand darauf dann wenigstens mit meinem Therapeuten zu sprechen. Zwar sprach ich mit Herrn Adams auch nicht wirklich, aber ihn kannte ich wenigstens. Jedoch meinte das Schicksal es nicht so nett mit mir, denn Herr Adams weilte im Urlaub. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass er so etwas erwähnt hatte. Was hatte ich also für eine Wahl? Ich konnte ja schlecht die nächsten drei Wochen im Krankenhaus verbringen. Ich musste zu meinen Kindern. Also erklärte ich mich dazu bereit mit einem anderen Therapeuten zu sprechen. Ich war fest davon überzeugt genau wie bei Herrn Adams einfach nicht wirklich viel zu sagen und wenn dann einsilbig.
Als es klopfte und kurze Zeit später die Tür aufging, betrat eine kleine, mollige Frau, vielleicht Mitte 50 mein Zimmer. Ihr brauner Bob wippte bei jedem Schritt und ihre braunen Augen strahlten Wärme aus. Ihre mollige Figur hatte sie in einem beige blauem Poncho und einer dunklen Jeans verpackt und es stand ihr ausgesprochen gut.
"Hallo Frau Roberts."
Ihre Stimme klang freundlich und warm. Für einen Seelendoktor eine beachtliche Leistung.
"Mein Name ist Rebekka Lagan und ich bin der Ersatz für Herrn Adams."
Ich räusperte mich und richtete mich in meinem Bett auf.
"Hallo Frau Lagan."
Fest sah sie mir in die Augen, aber ich empfand es nicht als unangenehm, dann sprach sie weiter: "Darf ich Sie Leyla nennen?"
Na wollte sie sofort eine persönliche Bindung herstellen, schoss es mir durch den Kopf.
Sie bemerkte wohl meine Gedanke oder wie auch immer, denn sie redete sofort weiter: "Ich will nicht sofort auf gut Freund machen. Das steht mir nicht zu. Ich kenn Sie ja gar nicht. Ich weiß doch noch nicht mal warum Sie hier sind. Also ich weiß schon, dass Sie einen Nervenzusammenbruch hatten und in letzter Zeit wenig gegessen haben, denn das haben mir die Ärzte mitgeteilt, aber wie Sie sehen ist das mehr als wenig..."
Sie wusste nichts? Wollte sie mit mir jetzt ernsthaft die letzten 1 ½ Jahre durchkauen?
Da vergeudete sie doch nur ihre Zeit.
"Aber wenn Sie keine Akteneinsicht haben, dann können Sie mir doch nicht helfen."
Aus Reflex zog ich mir meine Decke bis unters Kinn.
"Vielleicht ist es aber besser wenn ich nicht weiß was zum Beispiel Herr Adams notiert hat. So kann ich mir mein eigenes Bild machen. Das mit ihrem Mann tut mir aufrichtig leid. Diese Information habe ich zusätzlich noch bekommen. Können Sie mir sagen warum Sie das Gefühl haben den Atem anhalten zu müssen?"
Abwartend sah sie mich an. Die Frage überraschte mich und ich musste etwas überlegen bevor ich ihr eine Antwort gab. Wollte ich ihr eine Antwort geben?
"Weil man viele Menschen in seinem Leben trifft, die einem den Atem rauben, aber nur wenige, wenn nicht sogar nur einen, der einen daran erinnert weiter zu atmen, wenn man es vergessen hat..."
Die Worte verließen meinen Mund,  ohne das ich groß darüber nachdenken konnte, und ich mied ihren Blick, richtete meinen Blick stattdessen lieber aus dem Fenster. Draußen regnete es und die Regentropfen fanden ein ums andere Mal den Weg an die Fensterscheibe und liefen unkontrolliert die Scheibe hinunter. So fühlte ich mich auch manchmal. Unkontrolliert, meines Lebens beraubt.
"Und Ihr Mann war dieser eine für Sie?!"
Mit dieser Feststellung, denn genau das war es, ich konnte nämlich keine Frage darin erkennen, riss Frau Lagan mich von der Fensterscheibe los und holte mich zurück in das sterile Krankenhauszimmer.
Ich sah sie an als sie weitersprach: "Leyla, ich kann nicht annähernd nachvollziehen wie es sich anfühlt diesen einen Menschen auf so tragische Weise zu verlieren und diese Ungewissheit in sich zu haben, die einen innerlich auffrisst. All die belanglosen Floskeln sind bei einem Tod durch eine Krankheit, wo man Zeit zum Lebewohl sagen hatte oder des Alters geschuldet, schon zu viel und unpassend. Sie lindern niemals den Schmerz. Sie dienen einzig und allein dazu, die zu beruhigen etwas getan zu haben, die diese Floskeln ausgesprochen haben. Doch in Ihrem Fall kann kein Wort, keine Geste Ihnen irgendwie helfen, Ihnen, wenn auch nur einen minimale Linderung zu verschaffen. Was wünschen Sie sich von all den Leuten, Leyla?"
Wow. Was war das denn? So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen und doch traf sie mitten ins Schwarze und sprach mir aus der Seele. Die kleine, mollige Frau mit den wippenden Haaren brachte mich zum Nachdenken, forderte mein Hirn heraus.
Was wünschte ich mir von denen? Was wollte ich nicht mehr?
Lange blieb ich still und mein eingerostetes Gehirn lief auf Hochtouren.
"In Watte gepackt werden, wie ein rohes Ei behandelt werden, blöd angeguckt werden. Ich sehe ihre Blicke, dieses Mitleid in ihren Augen. Ja ich habe mich lange zurückgezogen und kaum gesprochen, aber ich war mit der Situation einfach überfordert. Bin ich immer noch."
Ich hielt inne und strengte mein Gehirn weiter an.
"Okay. Das sind gute Punkte. Warum haben Sie das den Leuten nicht gesagt?"
"Weil...weil..." und jetzt kam der springende Punkt.
"Weil ich seit dem Unglück nicht mehr viel gesprochen habe. Nur mit meine Kindern. Ich wollte diese Blicke einfach nicht mehr sehen und all diese Floskeln hören."
"Warum nur mit Ihren Kindern, Leyla?"
"Weil ich es für sie so normal wie möglich halten wollte. Sie sind noch so klein. Dieser Schlag soll ihnen nicht die unbeschwerte Kindheit rauben."
"Und meinen Sie Ihre Kinder haben nicht gemerkt wie schlecht es Ihnen wirklich geht?"
Ich musste feststellen, dass sie die richtigen Fragen stellte und es erschreckte mich zunehmend.
"Ich hatte gehofft sie würden es nicht merken, aber wenn ich es jetzt laut ausspreche, wusste der Große es wahrscheinlich die ganze Zeit", erwiderte ich kleinlaut.
"Das muss Ihnen kein schlechtes Gewissen einbringen, Leyla. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation..."
Ich hörte ihr lange zu und beantwortete jede Frage so gut und ehrlich es ging. Nach einer Stunde schwirrte mir der Kopf. Ich hatte das Gefühl mein Hirn wurde gefoltert. Doch trotz des Pochens hinter meiner linken Schläfe, hatte dieses Gespräch etwas in mir bewirkt, denn es war seit langem nicht mehr ausschließlich Leere in mir vorhanden. Nur was sollte ich damit anfangen?

Nach einer Woche durfte ich endlich das Krankenhaus verlassen und meine Kinder zu Hause in die Arme schließen. Herr Adams gab mich auf Bitten von mir an Frau Lagan ab, denn sie hatte in kürzester Zeit viel mehr erreicht als er. Er war sicher ein guter Therapeut, das stand außer Frage, jedoch war er nicht der richtige für mich. Er schien es ähnlich zu sehen, denn er willigte sofort ein.

Ty holte mich vom Krankenhaus ab und brachte mich nach Hause.
"Tristan und Sophie kommen morgen früh mit deinen Eltern. Komm erst mal wieder an."
"Danke."
Es war das erste Mal, das ich Ty länger betrachtete. Er hatte abgenommen, denn seine Jeans und sein Hemd saßen nicht mehr so perfekt wie damals. Seine blauen Augen hatten an Glanz verloren. Tiefe Augenringe zeichneten sein Gesicht und sein Lachen war verblasst. Von der lockeren, witzigen Art war nicht mehr viel übrig. Auch Ty war kaputt, vom Leben gezeichnet durch dieses Unglück. Ihm hatte das Leben genauso einen Schlag ins Gesicht verpasst und er trug noch eine große Bürde mit sich herum. Das Versprechen welches er Nathan gegeben hatte. Vor meinem inneren Auge spielte sich der Abend nachdem ich mit meinen Kindern von der Spielscheune nach Hause kam ab. Der Abend an dem Ty in meinen Armen zusammengebrochen war. Ich musste für ihn auch etwas tun, ihm auch zuhören. Er durfte mit all dem nicht alleine sein. Ich atmete tief durch und fragte dann Ty in die Stille des Autos hinein: "Wie geht es deiner Mutter?"
Bei dem Klang meiner Stimme zuckte er zusammen, hatte er doch nicht mit einer Frage von mir gerechnet. Müde rieb er sich über die Augen und parkte den Wagen, denn wir waren am Haus angekommen. Er stieg aus und ich dachte schon er wollte nicht mit mir sprechen, aber er nickte und sagte: "Lass uns drinnen darüber sprechen."
Ich folgte ihm ins Haus und er stellte meine Tasche ab und ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte sich ein Bier heraus.
"Willst du auch?"
"Ja", antwortete ich knapp und er reichte mir das Bier, dann setzten wir uns an den Esstisch und Ty fing an von seiner Mutter zu erzählen. Es fiel im sichtlich schwer und er musste sich zusammenreißen, denn es sah nicht wirklich gut aus. Die Depressionen bekam anscheinend niemand in den Griff und sie verweigerte die Tabletten, floh sich in den Alkohol und niemand wusste so recht wo sie den immer herbekam, denn sie war schon seit längerer Zeit in einem Heim. Ich war geschockt, denn ich hatte keine Ahnung, dass seine Mutter in einem Heim war. Ich wusste, dass sie Depressionen hatte und ein Alkoholproblem, aber das hatte sie schon als ich Nate und Ty kennenlernte. Es traf mich wie ein Schlag, denn erst da merkte ich wieder, wie wenig ich mich um andere Menschen in der letzten Zeit gekümmert hatte. So durfte es nicht weitergehen. Ich durfte die Menschen, denen ich etwas bedeutete und die sich für mich aufopferten und die mir etwas bedeuteten, nicht vor den Kopf stoßen. Das musste aufhören und so traf ich einen Entschluss...

End or beginning? Don't despair ✔Where stories live. Discover now