01 - Peter Pan

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Und da sind wir wieder. Bei der Probe der Theater-AG der High-School Arlington. Dieses Jahr führen wir zu Weihnachten das Musical Peter Pan auf. Es ist das erste Jahr, in dem ich eine Rolle mit Singpart bekommen habe. Die Rolle ist zwar nicht groß, aber ich bin trotzdem ziemlich aufgeregt. Ich habe noch nie solo vor Fremden gesungen, aber da ich im Chor und in der Theater-AG bin, wurde mir diese Rolle geradezu aufgeschwatzt. Mrs. Blythe, die die beiden AGs leitet, hat mir gut zugeredet, und ich denke, wenn ich mich anstrenge, kann auch mein Solo ganz gut werden. Aber es ist auf jeden Fall ziemlich angsteinflößend, vor den ganzen Schülern zu singen.

Mrs. Blythe hat mir auch einen Auszug der gesamten Besetzung gegeben, damit ich mich schon mal auf die Personen einstellen kann. Sie ist echt eine nette Lehrerin, und erinnert mich manchmal an meine Mutter mit ihrer fürsorglichen Art. Die Hauptrolle Peter Pan spielt Nick Evans. Ich kenne ihn nicht, aber ich glaube, dass er im Abschlussjahrgang ist. Was gut sein kann, weil die Hauptrollen oft an Abiturienten vergeben werden, als Belohnung und Ehrerweisung zum Abschluss. Die große Nebenrolle Captain Hook wird von Scott Hoying gespielt. Auch ihn kenne ich nicht, aber es kann gut sein, dass auch er im Abschlussjahrgang ist. Bei Wendy steht als Besetzung Kirstin Maldonado. Kirstie ist meine Freundin. Ich bin ziemlich stolz auf sie. Sie macht dieses Jahr ihren Abschluss und ist eine echt gute Sängerin und Schauspielerin. Sie wird es auf die ganz großen Bühnen schaffen.

Kirstie singt ihre letzten Worte. Sie strahlt und steckt mich damit an. Ich lächle sie an, als sie die Bühne verlässt und auf mich zukommt. „Das war super. Ich weiß nicht, was du daran noch hättest besser machen können." „Findest du?" Sie wirkt wirklich unsicher, und das bei der Show, die sie gerade hingelegt hat. „Ja. Das finde ich. Wie eine echte Elfe", sage ich und schließe sie in meine Arme. „Danke Mitch." Ihre Anspannung löst sich und ich sehe, wie ein Junge die Bühne betritt. Das muss der Darsteller von Captain Hook sein. Er sieht ziemlich nett aus. Zu nett, um die Rolle des Bösewichts zu spielen.

Als er anfängt zu singen, dreht sich Kirstie zur Bühne. Ich verstehe, wieso. Er hat sich vor meinen Augen gerade quasi verwandelt. Sein Gesang hat einen Ausdruck, der einem einen Schauer über den Rücken jagt und einen total gefangen nimmt. Und seine Körperhaltung drückt jetzt aus, dass er über die gesamte Welt herrscht. Als er in meine Richtung guckt, setzt mein Atem kurz aus. Selbst der Blick in seinen Augen zeigt, dass er total in seinem Element ist, als er besingt, wie er Nimmerland für immer zerstören wird. Das Blau seiner Augen spiegelt das Blau des Meeres wider und ich komme mir vor, als wenn ich neben ihm sitzen würde, während er mir auf dem Piratenschiff seinen Plan besingt.


Es ist der totale Wahnsinn. Es ist lange her, dass ich so eine gute Performance gehört habe. Die Zeit vergeht meiner Meinung nach viel zu schnell und als er die Bühne verlässt, lächle ich ihn an, auch wenn er mich gar nicht anguckt, sondern in Richtung seiner Freunde geht, die ihn mit Schulterklopfen empfangen. Mrs. Blythe geht zu ihm und scheint mit ihm über seine Darstellung zu sprechen. Ich bin total in meiner Welt, und merke erst gar nicht, wie Kirstin an meinem Pullover zupft. Erst als sie sanft, aber bestimmt mein Kinn in ihre Richtung zieht, bin ich wieder ganz bei mir. „Mitch, du musst auf die Bühne, es ist dein Auftritt." Dieser Satz lässt mich aus allen Wolken fallen. Da ist sie wieder – die Feindin Realität, die einen immer dann einholt, wenn man sie überhaupt nicht gebrauchen kann.

Ich fange an zu zittern und antworte: „Kirstie, ich schaff das nicht, ich hab noch nie vor der Schule gesungen." Und vor allem nicht vor Captain Hook, der gerade die beste Darstellung des Jahres geboten hat. „Du schaffst das Mitch. Du singst gut. Los, geh schon." Die Bühne ist schon seit einigen Minuten frei, und Mrs. Blythe sitzt schon wieder auf ihrem Platz, obwohl sie gerade noch mit Captain Hook geredet hat. Wenn ich jetzt nicht gehe, dann kommt sie gleich zu mir, und das würde mir eine Aufmerksamkeit bescheren, die ich gerade überhaupt nicht ertragen könnte. Ich bin so schon aufgeregt genug.

Also mache ich mich mit zitternden Knien und Händen auf den Weg zur Bühne. Als ich oben angekommen bin, stelle ich erst mal das Mikrofon niedriger ein. Captain Hook muss echt groß sein, das hatte aus dem Zuschauerraum überhaupt nicht so gewirkt. Ich habe Zeit, meinen Blick über die Schüler schweifen zu lassen. Kirstie lächelt mich an, Mrs. Blythe nickt mir zu und Captain Hook – er redet mit seinen Freunden und hat mir den Rücken zugewandt. Ich gucke zu Kirstin, hole tief Luft und fange an zu singen. Der Anfang ist, finde ich, ziemlich zittrig, und ich hoffe, dass man das Zittern und Beben in meiner Stimme nicht so stark heraushört und mir meine Aufregung  nicht ansieht. Kirstie beruhigt mich, und als der Refrain anfängt, schließe ich meine Augen. Er ist ziemlich hoch und ich muss aufpassen, dass ich meine Achtelnoten nicht verhaue. Als die letzte Strophe anfängt, öffne ich meine Augen wieder und sehe Kirstie an. Sie strahlt und nickt mir wie wild zu. Also schließe ich meine Augen wieder und lasse mich von der Melodie leiten. Der letzte Ton ist ein hohes G, ich öffne meine Augen und singe ihn in den Saal. Ich traue mich, zu Captain Hook zu gucken. Er sitzt jetzt mir zugewandt und seine gesamte Aufmerksamkeit liegt auf mir. Ich beende den Ton. Ich sehe nicht, was er von meiner Darbietung hält, aber das Ozeanblau seiner Augen brennt sich durch seinen intensiven Blick in meine Seele. Ich wende meinen Blick zum Boden und meine Wagen färben sich rot. Ich steige die Treppe von der Bühne herunter und gehe zu Kirstie. Ich spüre, dass er mich weiter anguckt.

Kirstie lächelt mich an und streckt ihre Arme aus. Sie kommt mir vor wie ein sicherer Hafen und ich lasse mich ganz in ihre Umarmung fallen. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange, denn es ist mir peinlich, dass ich am Ende Captain Hook angesehen habe und nicht sie. Kirstie ist immer für mich da und unterstützt mich, wo sie nur kann. „Dein Auftritt war wunderbar Mitch." „Ich liebe dich Kirstie!". Ihre Augen weiten sich und sie schlägt ihre Hand vor den Mund und strahlt mich an. „Ich liebe dich auch Mitch! So sehr." Sie zieht mich an sich heran und küsst mich. Das holt mich von Captain Hooks Blick, den ich immer noch in meinem Rücken spüre, wieder ganz zu ihr. Ich küsse sie zurück. Ich liebe sie mit meinem ganzen Herzen. Sie ist mein sicherer Hafen und mein Kontra. Wir sind wie Yin und Yang. Ohne sie wüsste ich nicht, was ich die ganze High-School lang gemacht hätte.


Ein Abschlussjahr ≠ 08/15 - Sup3rfruit FanfictionWhere stories live. Discover now