38| Das Verlangen, aufzugeben

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Angst kroch mir die Beine hoch. Als Nate sich gerade von mir entfernen wollte, griff ich nach seinem Ärmel, schenkte ihm jedoch keinen Blick.

„Nate. Nate! Da ist jemand", flüsterte ich stockend und spürte mein beschleunigtes Atmen. Augenblicklich drehte er sich um und schaute in die Richtung.

Stille kehrte ein. Oh Gott, er sieht ihn auch. Ich bilde es mir nicht ein.

„Wir fahren", schnitt Nate scharf ein, ehe ich eben das fordern konnte.

Die ganze Fahrt über war es ruhig und beide hingen wir unseren Gedanken nach. Ich versuchte meinen Atem nebenbei auch wieder unter Kontrolle zu kriegen, weil er noch immer flach war und sich permanent nicht beruhigen wollte.

Weil ich mich nicht beruhigen wollte, denn war das erst der Anfang, das spürte ich.

Leise räusperte sich Nate, woraufhin ich ihn kurz anblickte. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, sein Blick konzentriert auf die Straße gerichtet. „Wer war das von vorhin?", fragte er mich mit ernster Stimme. „Ich weiß es nicht."

Es war nicht ganz gelogen, denn wusste ich auch nicht, wer er war. Ich wusste nur, was er war. Er war ein Monster. Und er war mein langjähriger Begleiter, höher gesetzt als des Teufels Dämon, aber das musste er nicht erfahren.

„Du kannst vielleicht den anderen etwas weiß machen, aber nicht mir. Und du weißt genauso gut wie ich, dass du darüber reden musst, wenn du da endlich mal mit abschließen möchtest. Ich weiß wie es ist, wenn man Angst hat vor den eigenen Gedanken; vor sich selbst", zischte er gereizt.

„Mir geht es gut, okay?"

Schlechteste Lüge des Jahres. War es nicht unfassbar traurig, wie viele Menschen dies tagtäglich von sich gaben, aber keine einzige Silbe so meinten? Sie spielten etwas vor, versuchten alles, damit man ihnen nicht ansah, wie man innerlich zerbrach. Seit Tagen, Monaten, gar Jahren. Aber dennoch möchte man nichts sagen. Denn zu sagen, es gehe einem gut, ist so viel leichter, als jemanden zu erklären, was in einem vorging, wenn er doch nichts verstand.

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„Claire!", ertönte die mir vertraue Stimme und augenblicklich schlichen sich die versteckte Verzweiflung und Sehnsucht nach Halt an die Oberfläche. Ich beeilte mich, in die Küche zu kommen und Aidan beeilte sich, zu mir zu gelangen. So kam es dann, dass wir uns auf halbem Wege einander in die Arme fielen.

Ich genoss es, in einer bekannten Umgebung zu sein und den beruhigenden Geruch meines Bruders einatmen zu können. Ich fühlte mich sicher bei ihm, akzeptiert und geliebt. Das war auch der Grund, warum mein Körper selbstständig die Mauern fallen ließ, die meine Emotionen im Zaun hielten.

Mit einem Mal kamen mir erneut die Tränen der Verzweiflung und krampfhaft krallte ich mich in das Shirt meines Bruders. Er strich mir währenddessen beruhigend über den Rücken, obwohl ich in der Umarmung nur zu genau seinen angespannten Körper spürte.

„Claire, so kann das nicht weitergehen", hauchte er besorgt in meine Haare und seufzte bedrückt. Ich erwiderte jedoch nichts. Mir war klar, worauf er hinauswollte und es gefiel mir nicht. Er ließ sich davon aber nicht aus der Rolle bringen und fragte mich: „Was ist passiert?"

Nebenbei zog er mich die Treppen hoch und setzte mich auf seinem Bett ab. Ich hatte gemerkt, dass er mich gefragt hatte, doch realisieren konnte ich es nicht. Es war, als wäre ich in einer Seifenblase und würde alles mitbekommen, was um mich herum geschah, aber nicht wirklich spüren. Als würden alle Taten und Worte an der Blase abprallen. Nur das, was ich dachte und sagte blieb um mich.

„Ich kann nicht mehr", murmelte ich, während ich ihm in seine Augen blickte. Sie schimmerten verdächtig, was mich meine Augenbrauen zusammenziehen ließ. „Es wird nicht aufhören. Egal, was ich mache. Er verfolgt mich. Er beobachtet mich. Und er wird mich bestrafen. Ich bin ein schrecklicher Mensch. Aidan, niemand verdient es so sehr zu sterben wie ich es tue", presste ich am Ende meiner Grenze heraus.

Mir war bewusst, dass ich damit die einzig wichtige Regel von mir brach, doch mein Verstand dachte gar nicht erst daran, sich aufhalten zu lassen. Die Worte drangen aus meinem Mund, ohne, dass ich etwas tun konnte. Alles in mir schrie danach, meine Klappe endlich zu verschließen. Ich schloss die Augen, um tief Luft zu holen.

In meinem Kopf tauchte wieder das Bild von mir auf, in welchem mein Mund mit einer Naht verschlossen war. Ich sah, wie Tränen aus meinen Augenwinkeln flossen; sich immer mehr meinem Mund näherten. Vehement schüttelte sie ihren Kopf, die Verzweiflung in ihrem Gesicht geschrieben, mit den Tränen symbolisiert. Die erste Träne gelang an die Naht. Sie löste sich auf. Immer weiter. Bis ein Schrei mich zusammenzucken ließ. „Nein!"

Mit einem Mal war die Blase geplatzt. Der Gedanke, mir helfen zu können, indem ich darüber redete schwand langsam dahin. Wie konnte man so dumm sein? Mit weit aufgerissenen Augen sah ich Aidan in die Augen. Er war verwirrt. Er verstand es nicht. Zum Glück.

„Claire", hauchte er, in der Hoffnung, ich würde weiterreden. Doch ich schüttelte nur meinen Kopf und presste die Lippen aufeinander.

Nach wenigen Sekunden setzte sich Aidan neben mich hin und schloss mich in die Arme. „Wenn du noch einmal so etwas sagst, werde ich dich persönlich in einem Raum voller Spiegel sperren mit Erinnerungen an jeder Wand. Jede Erinnerung wird dir zeigen, wie sehr du geliebt wirst, wie sehr du gebraucht wirst. Und du wirst erkennen, dass du bisher so viel Gutes getan hast. Dass du anderen immer hilfst, also bitte lass dir einmal helfen", sprach er sanft und blickte scharf in meine Augen.

Er verstand es nicht. Ihm war nicht bewusst, welche Folgen durch meine Worten auftreten konnten.

„Lass uns schlafen", blockte ich ab und schmiss mich in sein Bett, nachdem ich meine Schuhe und Jacke ausgezogen hatte. Mein Shirt wechselte ich mit einem meines Bruders, während ich einer seiner Boxershorts als Schlafhose verwendete. Mir war klar, dass das Thema nicht beendet war für ihn. Aidan war eine Person, die nicht locker ließ, wenn er etwas wissen wollte. Und jetzt, da ich bereits angefangen hatte, wollte er die Geschichte beendet haben.

„Gute Nacht", murmelte er, während er sich neben mich hinlegte und an sich zog. „Du musstet schon viel zu viel erleben für dein Alter", flüsterte er leise zu sich, doch ich hatte es mitbekommen.

Und mit dem sachten Kuss auf meine Haare schloss ich die Augen und versuchte krampfhaft zu schlafen.

Hey ihr~
Hier ein weiteres Kapitel! Ich hoffe, euch hat das gefallen:) Hinterlasst mit doch ein Kommentar oder ein Vote, darüber würde ich mich sehr freuen♥

Und danke für über 15k Reads! Glaubt ihr, wir schaffen bis zum nächsten Kapitel auch die 1k Votes?*-* xxT~

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