Über Schicksal und Märchen

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Sophie

„Okay, wer kann mir sagen, was die wichtigste Führungskraft in der Engelswelt ist?" Unsicher schauten wir uns an. „Ich meine das nicht im politischen, sondern im geschichtlichen Sinn.", erklärte unsere Lehrerin.

Langsam hob ein Junge seine Hand. „Reden Sie von den Königen?"
„Ganz genau!" Erfreut klatschte sie in ihre Hände. „Das ist es, womit wir uns die nächsten Tage beschäftigen: Die Engelskönige. Wer kann mir dazu etwas sagen? Keine Sorge Leute, sagt einfach was euch gerade einfällt, das hier ist jetzt so eine Art offene Diskussionsrunde." Karlas Finger schoss in die Höhe.

Erstaunt schaute ich sie an. Bisher hatte sie nur Interesse an Jungs gezeigt und nicht am Unterricht. „Sie stammen aus der gleichen Familie, aber seit ungefähr hundert Jahren gibt es keinen König mehr. Vermutlich behandeln wir das Thema gerade, weil es immer wahrscheinlicher wird, dass kein neuer König kommt. Darius ist ja schon erwacht, und Camian..." Ihre Stimme versagte. Verwirrt schaute ich mich um, plötzlich schauten alle betroffen, auch die Lehrerin.

„Was ist denn mit Camian?", platzte ich schließlich heraus. Ungläubig starrten sie mich an. „Im Ernst?", fragte einer der Jungs. Ich zuckte mit den Schultern. Entschuldigung, ich gehöre nicht zu seinen Groupies.

„Er hat diese Krankheit, schon seit einem Jahr, aber keiner weiß wirklich, wie man ihm helfen kann.", erklärte er es mir. Mitleidig blickte er mich an. „Deswegen sind seine Flügel so durchscheinend. Wenn sie verschwunden sind... Vermutlich stirbt er dann." Ich schluckte. Das war der Grund, warum sie so farblos waren? Aber, das konnte einfach nicht stimmen.

„Eigentlich sollte nach dreihundert Jahren spätestens ein neuer König erwachen, aber Darius ist es nicht und, weil er vermutlich stirbt, sehen die Chancen echt schlecht aus, dass Camian Kinder bekommt, von denen eins der König sein könnte."

Ich war immer noch verwirrt. „Könnte nicht auch eine andere Familie außer den Davids dann Königsfamilie werden?", fragte ein niedlich aussehendes Mädchen mit Sommersprossen. „Natürlich nicht.", antwortete Karla verächtlich.

Langsam begriff ich, warum ihr das Thema gefiel. Camians und Darius' Leben war schließlich ihr Hobby.

„Theoretisch müssten wir eine neue Engelsfamilie dazu bestimmen, du hast schon recht, Samantha, aber diese hätte dann gar nicht die Möglichkeit die richtigen Eigenschaften hervor zu bringen.", erklärte unsere Lehrerin ernst. „Könige werden nicht einfach bestimmt, wie auch? Sie sind schnell und stark, dass müssen sie sein, um unser Volk beschützen und regieren zu können. Und diese Familie geht bis auf König David von Israel zurück. Als Camian ein Kind war, dachte man er könnte der nächste König sein. Die Überlieferungen sind nicht ganz klar und vollständig schon lange nicht mehr, aber es heißt, dass die Könige immer reine, weiße Flügel hatten. Das Königsfeuer schützte sie und diente gleichzeitig als Waffe."

„Was für ein Königsfeuer denn? Ist das metaphorisch gemeint?", platzte Christian in ihren Vortrag. Sie nahm es ihm nicht übel. „Das wissen wir leider nicht genau. Die, die es jemals gesehen haben sind schon lange tot und Bilder gibt es keine."

„Und wieso dachte man Camian könnte der nächste König sein?", überlegte ich laut. Das war einfach total krass. Und er hatte nie etwas gesagt! „Weil er weiße Flügel hat.", bemerkte Karla überheblich. „Außerdem ist er ein David, das würde also passen."
„Und jetzt glaubt man das nicht mehr, weil er stirbt, richtig?", fragte Helen kleinlaut. Alle schwiegen.

Ich zuckte erschrocken zusammen, als es an der Tür klopfte. Und nicht nur ich. Sogar die Lehrerin sah aus, als müsse sie sich kurz fassen. „Herein!", rief sie dann. Die Tür öffnete sich und Camian trat ein. Karla stieß ein kleines Quietschen aus und setzte sich kerzengerade hin. Einige holten zischend Luft. „Das nenn ich Karma.", murmelte ein großer Junge, Ben? leise.

Camian lächelte mich kurz an und richtete seinen Blick dann auf die Lehrerin. „Direktor Banks möchte Sie sprechen" erklärte er ruhig. Er schien nicht zu merken, in was für ein Thema er rein gestolpert war. „Natürlich. Wenn Sie mir die Frage..." Sie stoppte ertappt. Camians Schultern spannten sich an. „Ich meine, was machst du hier in der Schule, Camian? Solltest du nicht... bei Liam sein?"

Er musterte sie eindringlich und plötzlich bekam ich beinahe Angst vor ihm. Er strahlte eine solche Macht aus, dass es reinen Respekt zu fordern schien. Für einen kurzen Moment schienen seine Flügel nicht so blass, aber dann drehte er sich und... er sah aus wie ein Mensch, so durchscheinend waren seine Federn inzwischen.

„Ich habe meinen Abschluss noch nicht und genau wie Sie normalerweise auch, möchte mein Vater, dass ich normal lebe. Wie es aussieht hat Direktor Banks vergessen Ihnen zu sagen, dass sie nicht über mich oder meine Familie im Unterricht sprechen sollen." Seine Stimme klang stahlhart. Und es war mucksmäuschenstill.

Endlich schien sich unsere Lehrerin daran zu erinnern, dass sie hier die Autorität besaß. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und reichte ihm trotzdem gerade mal bis zur Schulter.

Er war groß, fiel mir überrascht auf. Und jetzt wo Darius mal nicht danebenstand, sah man auch, dass er ziemlich kräftig sein musste. Doch, ich verstand warum sie dachten, Camian könnte König sein.

Trotzdem krass. „Nun Camian, dann werde ich wohl nach der Stunde mit dem Direktor sprechen, um das zu klären. Du kannst wieder in den Unterricht gehen, wenn ich richtig liege hat dein Kurs vor 10 Minuten begonnen. Danke."

Nach ihm wirkte der Tonfall unserer Lehrerin wie das eines kuscheligen Stubentiegers und nicht wie ein reizbares, gefährliches Wesen. Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust.

Die gesamte Klasse lauschte dieser Diskussion wie gebannt. „Er möchte Sie jetzt sprechen. Ich bin sicher Ihre Schüler halten es auch eine Weile ohne Ihre Aufsicht aus." Scharf zog ich die Luft ein. Seit wann benahm Camian sich denn so? Wie ein... bockiger, stinknormaler Junge. Normal. War es das was er erreichen wollte?

Camian? Hörst du mich?" Er schaute mich nicht an. „Camian, das ist inakzeptabel!", begann unsere Lehrerin auf ihn einzureden. „Ja.", erklang es ruhig und kraftvoll in meinem Kopf. „Sie meinte es bestimmt nicht böse. Bitte führ dich nicht so auf."
„Selbstverständlich habe ich Verständnis für deine Situation, aber deswegen..."
Du weißt doch gar nicht was ich tue und warum!" Ich sah wie sich seine Schultern spannten und für eine Sekunde blickte er mich böse an. „Um normal zu wirken?", fragte ich sanft. Jetzt schaute er mich richtig an. „Was hat sie gesagt?" Ich konnte nicht anders, ich verzog das Gesicht mitleidig. Er kniff die Augen zusammen.

Jetzt bemerkte auch der Rest der Klasse, das wir anscheinend privat redeten. Meine Wangen verfärbten sich leicht rot und Camian seufzte ergeben. „Entschuldigen Sie bitte. Das war unhöflich von mir." Erstaunt wanderten die Blicke von ihm zu mir. Karlas mörderischen Blick konnte ich geradezu spüren.

Gott sei Dank klingelte es. Ich sprang auf und wollte aus dem Raum fliehen, aber Camian schnappte sich mein Handgelenk und hielt mich fest. „Warte bitte. Wir müssen reden." Mist... Ich sah ihm nicht in die Augen, sondern starrte stur auf den Boden, als die anderen Schüler tuschelnd an uns vorbeizogen. Die Tür schloss sich und es wurde still. Ich sah weiter den Boden an.

„Sophie. Würdest du mich bitte ansehen?" Zögernd hob ich den Blick und sah in diese Haselnussaugen, die mich daran hinderten einen klaren Gedanken zu fassen. „Sie hat von mir geredet oder?" „Ja." „Ihr seid durch das... Königsthema auf mich gekommen?"

Sein Daumen strich über mein Handgelenk, dass er immer noch festhielt. „Ja." Er beugte sich ein winziges Stück vor. „Sag mir was sie noch gesagt hat, Soph." Soph... So nannte er mich zum ersten Mal.

Verunsichert meinte ich: „Ich weiß nicht, ob..." Seine Lippen strichen über meine Wange, schmetterlingszart. Total eingelullt plapperte ich los. „Wir kamen auf deine Krankheit zu sprechen und das du..." Erschrocken fuhr ich zurück.

„Du hast mich abgelenkt, damit du in meinen Kopf kommst.", hauchte ich. Seine Miene war steinhart verschlossen, jeder Muskel gespannt. Das war mir Bestätigung genug. Ich riss mich los und stieß die Tür auf. „Nein, Sophie warte!" Ich rannte los. „Sophie!"
Ausnahmsweise war ich froh, dass Karla ihn fernhielt.

Die Wächterin - Mistkerle, Dämonen und Engel Donde viven las historias. Descúbrelo ahora