Kapitel 39

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'Ich wusste nicht, dass das was jetzt kommt mich derart überraschen würde...'

Jan PoV
Als ich die nächste Seite aufschlage, beginne ich automatisch zu lächeln, ob ich will oder nicht. Die Schrift ist die eines Grundschulkindes und ich stelle mir Andre als kleinen Jungen vor, mit seinem rotblonden Haar und frechem Grinsen. Der Andre, der jetzt... Ich schlucke und denke den Gedanken nicht zuende und fange stattdessen an zu lesen:

Liebes Tagebuch          13.7.2000
Ich heiße Andre und bin schon 9 Jahre alt. Oma hat mir das Buch geschenkt und gesagt, ich soll Tagebuch schreiben, damit man Erinnerungen aufbewahren kann.
Dein Andre

Ich lächle. Dieser Eintrag passt zu einem Neunjährigen. Kurz, aber süß. Ich lese sofort den nächsten Eintrag

Liebes Tagebuch 15.7.2000
Ich hab vor zwei Wochen ein Mädchen auf dem Spielplatz kennengelernt. Sie heißt Anne und ist echt lieb...-

Anne... Ich stocke und versuche mich zu erinnern, ob es in Stadthagen noch eine weitere Anne in unserem Alter gab.

...- heute waren ich und sie und ihr Familie am See baden. Es hat echt Spaß gemacht und ihr kleiner Bruder Jan war auch dabei.-

Ich schlage das Buch zu und starre entgeistert darauf. Was ?! ,,Andre." Flüstere ich. Ich öffne das Buch wieder auf der Seite und lese den Eintrag nochmal bis zu der Stelle. Ihr kleiner Bruder Jan. Wusste er, dass... Ich schlucke. Das kann doch gar nicht sein. Das kann nur ich sein.

Er ist erst zwei und unglaublich süß. Seine Augen sind total blau und er hat ganz hellblondes Haar. Fast wie ein Engel :) Er hat auch versucht uns nasszuspritzen, aber seine Hände sind viel zu klein. Und er hat so viel gelacht und ist uns immer hinterhergerannt, aber er kann gerade erst laufen und ist nicht so schnell wie wir.

Eine Träne tropft auf die Seite und verwischt die Schrift. Ich habe nicht gemerkt, dass ich angefangen habe zu weinen. Ich spüre einen dicken Klos in meinem Hals. Die Vorstellung von einem kleinen blonden Jungen, der die anderen beiden versucht mit seinen Händen nasszuspritzen. Die Vorstellung, wie Andre mich an der Hand zum Kinderspielplatz führt, der direkt am See war. Das hat er sicher auch gemacht. Er kannte mich. Schon die ganze Zeit. Meine Sicht verschwimmt und ich muss mir über die Augen wischen um weiterlesen zu können.

Ich und Anne haben ganz lange gebadet, aber irgendwann ist Jan dann auf der Picknickdecke eingeschlafen und Annes Mama hat gesagt, dass sie jetzt gehen müssen. Sie haben mich dann auch mitgenommen und nach Hause gebracht, weil Mama seit ein paar Wochen nicht mehr bei uns wohnt und Papa die ganze Zeit nur Alkohol trinkt und dann nicht Auto fahren darf. Aber ich habe das Annes Mama nicht gesagt, weil Papa mich sonst geschlagen hätte. Ich hab sie angelogen und gesagt, dass Papa noch lange arbeiten muss. Aber ich muss jetzt ins Bett und schlafen, bevor Papa wieder heimkommt sonst ruft er mich wieder. Er ist anders geworden. Ich hab Angst vor ihm.
Dein Andre

Er kannte mich, rattert es in meinem Kopf. Als er im Zug meinen Namen gelesen hat, hat er da direkt gewusst, dass ich es war? Das muss er gewusst haben. Ich merke, dass ich zittere. Er kannte mich schon Seit ich zwei Jahre alt war. Ich wische mir ein paar Tränen von den Wangen. Wie gern würde ich ihn jetzt so viel fragen. Aber er ist nicht da. ,,Er kommt nicht wieder, komm damit klar." Flüstere ich böse zu mir selber. Aber es bringt nichts mich selber zu schimpfen. Ich werde nicht über Andres Tod hinwegkommen. Das weiß ich. Ich wende mich schniefend dem nächsten Eintrag zu. Vier Monate später

Liebes Tagebuch 4.11.2000
Ich hab schon ein paar Monate nichts mehr geschrieben, weil einfach zu viel passiert ist. Ich bin auch gar nicht mehr zuhause sondern in Köln, weil ich mich gewehrt habe, als Papa mich wieder schlagen wollte. Er hat mich rausgeschmissen und jetzt bin ich im Kinderheim in Köln. Ich hatte auch keine Zeit mich zu verabschieden von Anne und Jan, aber Jan hätte eh nicht verstanden, was ich gesagt hätte. Ich mag die Kinder hier nicht, sie sind komisch. Sie sind so laut und streiten oft. Ich mag das nicht und ich hab keine Freunde hier. Die Erzieherinnen sind auch doof. Ich mag zurück aber nicht zu Papa, sondern zu Annes Familie. Die waren lieb.
Dein Andre

Er war im Heim? Ich mein ich wusste ja, dass er in der Arbeitseinheit war, aber im Kinderheim? Mich überkommt eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, was Andre schon mit neun Jahren erleben musste. Schläge, Ärger...

Liebes Tagebuch 23.2.2005
Wow, die Zeit fliegt vorbei. Es ist wieder so viel passiert, das glaubst du nicht. Ich weiß, das brauche ich eigentlich nicht erwähnen, zwischen dem letzten Eintrag und diesem liegen fünf Jahre. Aber trotzdem. Also: Unsere Regierung hatte den super Einfall, dass sie das Land in Einheiten unterteilen. Jeder kommt in soeine Einheit, außer man kauft sich frei, was eigentlich unbezahlbar ist. Ich bin in einer Erziehungseinheit, hier kommen 5-18 Jährige rein. Die Kinder die fünf werden, werden also einfach ihren Eltern weggerissen und woanders hingebracht. Schon ziemlich hart. Hier heult auch so circa jeden Tag irgendein kleines Kind, weil es seine Eltern vermisst, was auf dauer echt nervig ist. Ich mein, ich versteh schon, dass es scheiße ist, aber man muss drüber hinwegkommen, was bringt es denn zu heulen, das ändert nichts. In der Beziehung kann ich echt froh sein, dass ich schon fünf Jahre ohne Eltern lebe. Ich vermisse sie kein Stück. Die können mich mal. Meine Mum und mein Dad, alle beide. Ich glaube, alleine lassen, schlagen und auf die Straße setzen ist nicht wirklich die richtihe Arte, sein Kind zu erziehen. Ich teile mir das Zimmer mit soeinem 17 Jährigen, der nichts mit einem 14 jährigen zu tun haben will. Und wenn er redet, dass redet er nur über die süßen Mädchen in unserer Einheit. Ich versteh ihn echt nicht, die sind doch alles gleich oder? Ich hab hier genauso wenig Freunde, wie im Heim. Sie sind mir alle zu zimperlich. Ich habe einmal versucht einen weinenden Jungen zu trösten und hab ihm eingeredet, dass er stark sein muss und nach vorne blicken soll. Er kann nichts ändern. Und er hat mich einfach angeschrien, dass ich mich verpissen soll. Also hab ich es ab da an gelassen, mir Freunde zu suchen. Oh, die Klingel leutet, ich muss zum Abendessen. Bye.
Dein Andre

Ich blättere mit zittrigen Fingern weiter. Krass, wie man anhand der Schrift und dem Inhalt erkennen kann, wie er wächst. Dieser Eintrag ist um so vieles reifer, wie die vorherigen. Es fällt mir schwer, den Andre, der mich beschützt hat, der mit mir gelacht hat, der mich geküsst hat, der mich getröstet hat, der so unglaublich geheimnissvoll war, als kleinen, einsamen Jungen in einer Einheit vorzustellen. Meine Augen brennen mittlerweile wegen den ganzen Tränen aber darauf nehme ich keine Rücksicht und lese weiter...



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