Kapitel 1

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Einsam. Einsam und allein. Ein Einzelgänger. Das passte. Abgeschottet von jeglichem menschlichen Kontakt, abgeschirmt von den Menschen, die sich um mich sorgten, denen ich etwas bedeutete. Niemand dem man vertrauen kann, niemand der einem zur Seite steht und niemand der dir ein 'Alles wir wieder gut.' ins Ohr flüstert. Ohne ihn zu sein. Einsam in der Stadt die keine Ruhe kennt, die niemals schläft. Die Stadt in der die Menschen einem nach dem Leben trachteten, in der man zu einer Ausgestoßenen wurde. Die Stadt die einen verändert hat, die einen in das Böse in jedem Menschen glauben ließ. Die Stadt in der der Traum zum Albtraum wurde und die Stadt von der man einfach nicht loskam, weil sie einen gefangen hielt.

Die kühle Dunkelheit umfing mich noch immer wie ein sanfter Schleier, obwohl die Sonne langsam aufging. Die Nebenschwaden, die sich zwischen die Häuserschluchten gesetzt hatte, zogen sich langsam zurück, als würden sie für die Menschen Platz machen, die bald eilige umherrennen würden. Jeder in seine eigenen Probleme und Gedanken versunken. Und ich befand mich mitten drin. In der Surrealität, die ich noch immer nicht für Realität halten konnte.

Ich hatte immer geglaubt, dass sowas niemals passieren würde. Mir doch nicht. Ich musste ein freudloses Auflachen unterdrücken. Mein Leben hatte eine 180° Wendung gemacht und mich so schnell mitgerissen, dass mir schwindlig wurde und ich die Orientierung verloren hatte. Und bisher auch nicht wieder gefunden hatte.

Manchmal hatte ich das Gefühl zwischen all den Lügen und Ängsten zu ertrinken, als würden sie mich einholen, über mich hereinbrechen, wie die Wellen eines gigantischen Sturms. So hilflos und ängstlich hatte ich mich schon lange nicht mehr - vielleicht sogar noch nie gefühlt. Jeder Schatten der zu einer potenziellen Gefahr heranwuchs, jede Person, die einem über den Weg lief, die zu einem Feind wurde oder es jeden Moment werden konnte. Ich war es leid. Ich war es leid mich zu verstecken, unsichtbar zu sein. Wie ein Geist durch die Straßen zu schleichen, mit dem Ziel von niemandem wahrgenommen zu werden. Ein niemand zu sein. Jemand der zwar lebte, aber ohne Freude, ohne Interessen, ohne Vertraute. Eine Person der ich nie viel zu sagen gehabt hätte, der ich aus dem Weg gegangen wäre, doch nun war ich selbst zu so einer Person geworden. Dann erinnerte ich mich daran, wieso ich hier war.

Weil ich keine andere Wahl hatte und es keine andere Möglichkeit gab. Weil ich sonst schon längst tot wäre.

Erst jetzt fiel mir die dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite auf. Ein Mann im Anzug stand auf neben dem Kiosk und starrte mich durch das Fenster hindurch an. Mir stockte der Atem. Er bewegte sich nicht, sondern fixierte mich mit seinen Augen. Mein Herzschlag schnellte in die Höhe. Der Mann bemerkte, dass ich ihn ansah, doch er blickte weiterhin durch das Fenster. Fast so als würde ihn meine Reaktion auf sein Starren interessieren.

Langsam nahm ich den Lappen, mit dem ich gerade einen Tisch abgewischt hatte und trat vorsichtig aus seinem Blickfeld. Nach Atem ringend lehnte ich mich an die kühle Mauer neben dem Fenster. Das konnte nicht wahr sein. Hatten sie mich gefunden? Ich würde sicher nicht warten um es heraus zu finden. Ich musste weg - und zwar schnell. Diesen Job kündigen und vielleicht sogar wieder nach Boston verschwinden. Ich rannte in das Hinterzimmer, das für die Mitarbeiter gedacht war - darauf bedacht, dass ich an keinem Fenster vorbeirannte - und packte meine Tasche. Dort hatte ich immer ein Messer für den Notfall. Ich warf mir die Tasche über die Schulter und wollte durch die Hintertür verschwinden. Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb, meine Hände waren schweißnass.

"Wo willst du hin?" rief jemand hinter mir. Erschrocken sprang ich herum. Es war Jenna, meine Chefin die aus ihrem Büro getreten war.

"Ich-Ich... muss nur an die frische Luft." log ich.

Meine Lippen waren trocken und fühlten sich rissig an. Jenna musterte skeptisch die Tasche, die über meinem Arm hing.

"Das geht nicht wir öffneten-" sie sah auf ihr Uhr "- genau jetzt. Geh zurück zur Arbeit und bedien' die Gäste." murmelte sie dann und verschwand wieder in ihr Büro, jedoch nicht ohne mich noch mit einem skeptischen Blick zu mustern.

Last IdentityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt