Kapitel 33

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Die Sonne versteckte sich bereits seit dem Morgen hinter den Wolken. Tristan und ich radelten die einsame Landstraße entlang, ich hielt mich ein paar Meter hinter ihm.
Gestern Abend hatte es angefangen zu regnen und kurz darauf hatte sich ein gewaltiges Sommergewitter entladen. Nachmittags hatte ich meinen Großeltern bei drückender Hitze im Garten geholfen. Die körperliche Arbeit hatte mir gut getan und während ich das Unkraut ausgerissen hatte, hatte ich genug Zeit gehabt, um über Yasmin und meinen Vater nachzudenken. Oma und Opa hatten das Thema nicht mehr angesprochen und ich vermutete, dass auch sie etwas Abstand davon gewinnen wollten. Ihnen musste die Konfrontation damit noch schwerer fallen als mir.
Abends hatte es schließlich begonnen, zu regnen und zu stürmen. Der Regen hatte die Luft merklich abgekühlt. Allerdings hatte der Wind an einigen Bäumen schwere Schäden hinterlassen und Tristan und ich hatten uns freiwillig gemeldet, um auf der Wiese am Wald abgebrochene Äste wegzuräumen.
Auf den Feldern zu unseren Seiten glänzte das Getreide goldgelb, doch auch hier hatte das Gewitter seine Spuren hinterlassen. An einigen Stellen waren die Stiele durchgebrochen und an manchen Punkten schien es, als hätte sich jemand einfach ins Getreide gelegt.
Die schmale Straße schlängelte sich gemächlich durch die Landschaft. Hinter uns vernahm ich den Motor eines Autos. Ich lenkte das Fahrrad etwas zur Seite und ließ es langsamer werden, sodass das Auto uns überholen konnte.
Mit einem schnellen Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass ich nah genug an der Seite fuhr. Die röhrenden Geräusche des Autos wurden immer lauter. Es klang beinahe wie die getunte Maschine des Mannes, der in der gegenüberliegenden Wohnung zu Hause wohnte. Die Scheiben des schwarzen SUVs waren getönt und ich verzog abfällig das Gesicht. Der Fahrer des Wagens musste anscheinend sehr viel Wert auf sein Auto legen. Wahrscheinlich war es für denjenigen eine Art Statussymbol.
Noch einmal heulte der Motor auf und ich schaute nach hinten. Anstatt dass der Fahrer sein Tempo verlangsamte, um zu überholen, gab er Gas.
Im Kopf überschlug ich, wie viele Meter das Auto noch von uns entfernt sein mochte. Hundert, mehr bestimmt nicht. Ich fuhr etwas dichter an die Seite heran, das Motorengeräusch wurde lauter und lauter.
Mein Herz schlug schneller und ich klammerte mich am Lenker fest, sodass meine Fingerknöchel weiß unter meiner Haut hervortraten. Eigentlich hätte ich den Blick nach vorne richten müssen, aber instinktiv sah ich ein weiteres Mal nach hinten.
Der Himmel spiegelte sich im glänzenden Lack und der Frontscheibe des Autos. Panik ergriff mich, als sich der Wagen nicht links hielt, um uns zu überholen, sondern mit jedem Meter weiter nach rechts steuerte. Was tat der Fahrer da? War er wahnsinnig? Wenn er nicht sofort das Lenkrad herumriss, würde er uns streifen!
Mein Kopf fühlte sich wie Watte an und ich war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich nach hinten. Das Auto beschleunigte weiter, der Abstand zwischen dem Wagen und mir verringerte sich mit jedem Herzschlag.
"Spring ab, Isabelle!", hörte ich Tristan rufen, doch keiner meiner Muskeln reagierte. Wie gelähmt saß ich auf dem Fahrrad, unfähig mich zu bewegen.
Der Wagen kam näher und näher. In meinen Ohren dröhnte der Motor und ich hatte den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Er will uns umbringen, dachte ich plötzlich. Der Fahrer will uns umbringen!
"Spring ab!", schrie Tristan erneut und auf einmal schien ein Ruck durch meinen Körper zu gehen, als erwache ich aus einer Trance.
Nur eine handvoll Meter trennten mich von dem Auto und ich spürte das Adrenalin in meinen Adern. Irgendwie weg, Hauptsache von der Straße weg. Zum Abspringen war es längst zu spät.
Ich ließ den Lenker los und streckte die Arme aus. Im nächsten Moment verlor ich das Gleichgewicht und kippte mitsamt dem Fahrrad zur Seite. Meine Hände fingen den Sturz ab, als ich einen Wimpernschlag später auf dem nassen Gras aufkam.
Im nächsten Moment fühlte ich den Luftzug des vorbeifahrenden Autos an meinem Kopf.
Zitternd blieb ich liegen, bis der Motor des Autos kaum mehr zu hören war. Mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust, so heftig klopfte es. Ich rang nach Luft und wagte es nicht, mich zu bewegen.
Auf mir lag das Fahrrad und meine Hände, Ellenbogen und Knie schmerzten, doch ich realisierte es kaum. Sogar als Tristan angelaufen kam, konnte ich noch immer nicht begreifen, was eben passiert war. Vor meinem inneren Auge sah ich das Auto und wie es sich immer weiter näherte. Die Angst hielt mich in ihren Fängen und meine Unterlippe bebte bei dem Gedanken daran, was hätte passieren können.
"Geht es dir gut?", fragte Tristan und zog das Fahrrad von mir herunter. Sein Gesicht war totenbleich und auch seine Finger zitterten leicht.
"Alles in Ordnung", brachte ich hervor, als er mir half, mich aufzusetzen. Erde und Gras haftete an meiner ganzen Hose, aber ich machte mir nicht die Mühe, den Schmutz abzuklopfen. Unser Atem ging schnell und ich bemühte mich, ihn unter Kontrolle zu bekommen.
"Das war verdammt knapp", sagte Tristan und erneut konnte ich den Luftzug des Wagens auf meiner Kopfhaut spüren. "Der Fahrer war verrückt."
Ich brachte nicht mehr als ein Nicken zustande. Verrückt war eine harmlose Umschreibung, lebensmüde traf es besser.
"Er wollte uns umbringen", flüsterte Tristan und mir lief ein Schauer über den Rücken. "Das war kein Fahranfänger, der aus Versehen falsch gelenkt hat. Hast du gesehen, wie er Gas gegeben hat und wie er immer weiter zur rechten Seite gefahren ist?"
Natürlich hatte ich das. Die Szene spielte sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab. Mir wurde dabei ganz schwindelig und ich stützte mich mit den Händen ab.
"Ein Wahnsinniger." Tristan schüttelte den Kopf. Auch seine Jeans war mit Grasflecken übersät.
"Hast du den Fahrer erkannt?", krächzte ich und hustete.
"Nein, in dem Moment konnte ich nicht einmal richtig denken. Ich habe nur geschrien, dass du abspringen sollst und es dann selbst getan", erwiderte er.
Ich musste an den Ball und die Worte meiner Großeltern denken. Jemand hatte es tatsächlich auf uns abgesehen.
"Glaubst du, es war der Mörder?" Als ich meinen eigenen Gedanken aussprach, wurde mir ganz kalt ums Herz und meine Stimme zitterte.
Tristan ließ sich neben mich auf den Boden fallen und schaute mich an. Der Blick aus seinen blauen Augen war durchdringend und es schien, als könne er mein Inneres sehen. "Ich weiß es nicht."
"Aber das ist doch auch kein Zufall, oder? Zwei Tage, nachdem jeder im Dorf davon erfahren hat und plötzlich Yasmins Ball im Garten liegt, der davor über sechzehn Jahre lang verschwunden war, fährt auf einmal jemand so dicht auf und riskiert dabei unser Leben?" Der Ball war eine eindeutige Warnung gewesen, doch der Fahrer hatte definitiv die Absicht gehabt, uns von der Straße zu drängen, wenn er uns nicht sogar hatte umbringen wollen. Wir konnten wirklich von Glück sprechen, dass wir uns noch rechtzeitig in Sicherheit hatten bringen können.
"Möglich", erwiderte Tristan knapp und ihm war das Unbehagen deutlich anzusehen.
"Wir wissen, wozu derjenige bereit ist", meinte ich und griff nach Tristans Arm. Meine Angst war nicht verflogen, sie schien mit jeder neuen Überlegung zu wachsen.
"Aber der Mörder muss aus dem Dorf stammen. Und niemand hier fährt ein solches Auto, da bin ich mir sicher", antwortete er. "Vielleicht war es ja doch nur ein Verrückter, der uns etwas Angst einjagen wollte."
Zweifelnd blickte ich ihn an. War dies eben tatsächlich lediglich jemand gewesen, der keine Rücksicht auf andere nahm und sich einen Spaß daraus machte, andere so zu erschrecken? Mein Bauchgefühl sagte mir etwas anderes, doch ich konnte Tristans Behauptung nicht widerlegen. Vermutlich machte ich soeben einen großen Wind um nichts.
"Komm, lass uns weiterfahren", meinte Tristan und ich bewunderte seine Zuversicht. Er stand auf und hielt mir die Hand hin, um mich hochzuziehen.
Meine Beine fühlten sich zwar noch etwas wackelig an, doch ich hob das Fahrrad auf und folgte Tristan, der seinen Drahtesel dort gelassen hatte, wo er abgesprungen war. Ganz wohl war mir zwar nicht, doch ich versuchte, das Gefühl zu verdrängen. Hoffentlich waren wir einfach nur Opfer eines rücksichtslosen Rasers geworden.
Die restlichen Minuten liefen wir schweigend hintereinander her. Wir schoben unsere Fahrräder, aber ich wusste nicht, ob Tristan es auch aus Angst tat, falls der Fahrer wiederkam, oder nicht aufstieg, weil er aus Souveränität handelte.
Im Abstand von mehreren Metern lauschte ich hin und wieder, ob der laute Motor des Autos zu hören war. Doch es blieb still und ich vernahm nur unsere Schritte und den Vogelgesang. Trotzdem fühlte ich mich unsicher und blickte mich um, sobald irgendwo von den Feldern ein Geräusch zu mir drang.
Vor uns türmten sich die hohen Bäume des Waldes auf. Fast alle Erinnerungen, die ich mit ihm verband waren von den Dorffesten geprägt, aber ich verband den Ort auch mit einem der schlimmsten Erlebnisse. Die Wolken hingen tief und es sah nach Regen aus, aber im Wetterbericht hatte man keinen weiteren Wolkenbruch angekündigt.
Ich wusste nicht, ob es am ungewohnt grauen Himmel oder der Tatsache lag, dass wir nur um Haaresbreite einem Verrückten entkommen waren, aber auf meinen Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Meine Hände fühlten sich trotz der angenehmen Wärme kalt an.
Als wir den Waldrand fast erreicht hatten, lief Tristan etwas langsamer, damit ich ihn einholen konnte. "Ist hier die Wiese? Ich war noch nie bei einem Dorffest dabei."
"Ja", erwiderte ich und deutete auf eine kleine Holzblockhütte auf der Wiese zu unserer Linken. Erst vor kurzem musste hier gemäht worden sein, das abgeschnittene Gras lag noch immer auf dem Boden.
Wir lehnten die Fahrräder an einen Baum, bevor wir damit begannen, abgebrochene Äste aufzusammeln und sie in der Mitte der Wiese zu stapeln. Ab und zu redeten wir ein paar Worte, aber meistens blieben wir still.
Der Schock musste uns beiden noch ziemlich tief in den Gliedern sitzen und auch mein Herzschlag hatte sich meinem Ruhepuls noch nicht angepasst. Manchmal zitterten meine Hände, wenn ich etwas aufhob.
Mehrere Fragen beschäftigten mich und ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort auf alle tatsächlich wissen wollte. Allem voran: Wer war der Fahrer dieses Wagens? Und wieso hatte er sich selbst und uns in eine so gefährliche Situation gebracht?
Zwar hatte Tristan beteuert, den Wagen noch nie im Dorf gesehen zu haben, aber trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass der Fahrer zugleich Yasmins Mörder war. Erneut beschlich mich die Angst, dass jemand tatsächlich nicht davor zurückschreckte, andere umzubringen. Und durch das Nachforschen hatten wir uns auf seine Abschussliste gebracht.
Ich warf Tristan einen schnellen Blick zu, der gerade dabei war, einen großen Ast in die Mitte der Wiese zu ziehen. Er wirkte ruhig und konzentriert, doch ich wusste, dass er seine Gefühle gut verstecken konnte und sich seine Furcht niemals anmerken lassen würde. Im Gegensatz zu ihm war ich ein offenes Buch.
Ich las ein paar kleine Ästchen zusammen und trug sie zu Tristan hinüber. Er schaute mich nicht an, sondern hatte mir den Rücken zugewandt. Am liebsten hätte ich ihn angesprochen, doch ich suchte vergeblich nach einem passenden Satzanfang und so ließ ich es sein.
Offensichtlich hatte das Sommergewitter hier nicht allzu viele Schäden angerichtet, denn wir hatten alles erstaunlich schnell aufgeräumt. Bis auf ein paar große Äste, die wir zusammen schleppen mussten, hatten wir keine Probleme.
Tristan erkundigte sich nach den Dorffesten in den letzten Jahren und ich erzählte ihm davon. Meistens organisierten mehrere Leute gemeinsame Spiele oder kleine Auftritte. Im vorhergehenden Sommer hatte beispielsweise ein älterer Mann seine Freunde zusammengetrommelt und mit ihnen mehrere Musikstücke vorgespielt.
"Meine Oma hat gesagt, dass Christel dieses Jahr einen Tanz um das große Feuer zeigen möchte. Ich hoffe nicht, dass sie das wirklich tut", meinte ich und Tristan grinste.
"Manchmal ist Christel wirklich schräg", bekräftigte er. "Sie hat mir schon mehrmals die Karten gelegt und vorausgesagt, dass bald ein schreckliches Unglück passieren wird."
Ich kaute auf meiner Lippe herum. Damit könnte Christel unter Umständen sogar recht behalten, wenn wir uns nicht vor dem Mörder in Acht nahmen. Aber ich schob den Gedanken schnell beiseite, bevor er die Überhand gewinnen konnte und ich meine Entscheidung erneut anzweifelte.
Tristan sah mir in die Augen. "Wenn wir schon einmal hier sind: Erzähl mir doch etwas über deinen Vater."

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