Kapitel 27

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Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. "Das ist alles wirklich sehr unglücklich gelaufen", meinte er und sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.
"Es tut mir wirklich Leid", sagte ich und kniete mich neben ihn.
Ein Seufzer entwich ihm. "Schon gut, schließlich war es Volker, der den Mund zu weit aufgemacht hat."
Ich wollte ihm widersprechen und beteuern, dass ich den Stein ins Rollen gebracht hatte, aber stattdessen schwieg ich. Tristan hatte mir nicht die Schuld zugewiesen und ich war dankbar dafür. Wahrscheinlich hätte es meine Gefühlslage nur verschlechtert und deshalb gab es keinen Grund, zu protestieren, obwohl ich es instinktiv gerne tun würde.
"Volker ist wirklich ein schwieriger Fall und ich kann ihn nicht einschätzen. Nicht nur, weil ich nicht weiß, wie viel Alkohol er intus hat, sondern auch da er manchmal zu extremen Stimmungsschwankungen neigt. In einer Sekunde ist er noch die Ruhe in Person, in der nächsten brüllt er jeden im Raum an. Mach dir keine Vorwürfe, niemand hätte das ahnen können", fuhr er versöhnlich fort.
Das schlechte Gewissen stand mir wohl ins Gesicht geschrieben und ich fuhr mir mit der Hand über die Wangen, als wolle ich es abwischen. "Danke", antwortete ich kleinlaut und betrachtete meine Hände. Dass Tristan mir nicht einen einzigen Vorwurf machte, wusste ich sehr zu schätzen. Denn eigentlich hätte ich es verdient, angeschrien zu werden.
Er zuckte mit den Schultern. "Jetzt ist es ohnehin zu spät und wir können nichts mehr daran ändern. Deshalb sollten wir uns lieber darauf konzentrieren, was vor uns liegt."
Meine Finger verkrampften sich zu Fäusten und ich brauchte einen Momene lang, um sie wieder zu entspannen und mir nicht allzusehr anmerken zu lassen, wie groß meine Angst vor den Folgen tatsächlich war.
Die Furcht hatte eine Art Mauer um mich herum gebildet, die mich einschloss und die ich nicht überwinden konnte.
"Christel hat mich davor gewarnt, falls der Mörder davon erfahren sollte, dass wir nach ihm suchen", brachte ich zaghaft hervor.
"Ja, sie hat mir gesagt, dass er unter Umständen nicht zögern würde, mich auch zu töten", entgegnete Tristan und seine Stimme klang unsicher. Er schien ebenfalls beunruhigt zu sein.
"Aber wenn genau das passiert?", fragte ich, zog die Schultern hoch und schlang meine Arme um meinen Oberkörper.
Tristan biss sich auf die Lippe und wich meinem Blick aus. In seinem Gesicht zeichnete sich die Angst ab, die ich selbst empfand. Nur konnte er sie besser verstecken und lediglich das Flackern in seinen Augen verriet mir, was er wirklich spürte. "Dann weiß ich auch nicht weiter."
Beruhigend war dies auf jeden Fall nicht. Vor allem, weil ich mich noch genau an Christels exakten Wortlaut erinnern konnte. Als würde sie mir ihre Warnung noch einmal ins Ohr wispern. Der bloße Gedanke daran genügte, um mich frösteln zu lassen.
"Denkst du, das wird sich schnell herumsprechen?" Eigentlich eine rhetorische Frage.
"Nur ein bis zwei Tage, dann wird jeder davon wissen", erwiderte er und fuhr sich mit der Hand durch die hellen Haare. "Ich würde alles am liebsten rückgängig machen."
Stumm nickte ich und rieb meine Arme, um die Gänsehaut von dort zu vertreiben. Die Zeit nur um eine halbe Stunde zurückdrehen; für diesen Wunsch würde bestimmt auch Tristan einiges opfern.
Wieder herrschte Stille und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war voller Vorwürfe und ich kämpfte gegen sie an. Tristan hatte mir nicht die Schuld gegeben. Eigentlich sollte ich mich deshalb befreit fühlen, aber das Gewicht, mit dem meine Gedanken mich zu Boden zwingen wollten, hatte er mir nicht genommen.
Ich hätte mich gerne bemüht, positiv zu denken, doch je mehr ich mich anstrengte, desto weniger gelang es mir. Dass dies eine miserable Lage war, hatte ich längst begriffen und konnte es mir nicht wieder ausreden.
"Möchtest du überhaupt weiter nach dem Mörder suchen?", fragte ich vorsichtig, als die Ruhe unangenehm zu werden begann. "Wäre es nicht zu gefährlich?"
"Wir wissen noch nicht einmal, wie die Leute reagieren werden. Es gibt im Moment also keinen Grund, es nicht zu tun." Doch Tristan schien allem nicht unbedingt optimistisch gegenüberzustehen. Vielleicht probierte er auch gerade, sich selbst zu überzeugen.
Zweifelnd hob ich die Augenbrauen und befeuchtete meine Lippen. "Uwe sah nicht sehr begeistert aus. Und die anderen erst recht nicht", bemerkte ich kleinlaut.
"Ich weiß, aber noch können wir die Flinte nicht ins Korn werfen. Manche werden es unter Umständen gar nicht glauben, weil sie wissen, dass Volker mit etwas Alkohol im Blut gerne Unsinn redet." Diese Aussage klang beinahe noch kläglicher als die vorherige.
Dieses Mal widersprach ich nicht. Als Tristan und ich einen Blick wechselten, war mir klar, dass wir dasselbe dachten: Die Neuigkeit würde sich wie ein Lauffeuer im ganzen Dorf verbreiten. Keiner von uns hatte sich vorhin verteidigt, wir hatten nicht einmal versucht, etwas zu erklären. Jeder, der dabei gewesen war, wusste, dass Volker die Wahrheit gesagt hatte, Trunkenheit hin oder her.
"Aber was, wenn..", setzte ich an.
"Wenn der Mörder deiner Schwester so auf uns stößt?", vollendete Tristan den Satz. "Dann werden wir wohl damit leben müssen."
Die Überzeugung in seiner Stimme ließ mich erzittern. Wollte er das wirklich in Kauf nehmen? Wir wussten beide genau, wozu die Person fähig war und ich zweifelte nicht daran, dass sie davor zurückscheute, einen weiteren Menschen umzubringen.
"Wird das nicht zu gefährlich?", hinterfragte ich seine Antwort deshalb.
Tristan hob die Schultern und schwieg kurz. "Du hast Recht, aber das Risiko gehe ich ein."
Ungläubig sah ich ihn an. Trotz der Gefahr, die seine Nachforschungen bargen, konnte niemand ihn von ihnen abbringen.
"Ich würde gerne vernünftig sein und die Sache nun einfach auf sich beruhen lassen. Aber ich kenne mich selbst gut genug, um zu wissen, dass ich sowieso nicht in der Lage wäre, locker zu lassen. Dazu habe ich mich schon viel zu sehr hineingesteigert und würde mich nie ganz erfüllt fühlen, ohne den Täter zu kennen."
Während er sprach, hielt er den Blick gesenkt. "Selbst wenn ich mir vornehmen würde, jetzt damit aufzuhören, würde ich trotzdem in spätestens ein paar Tagen wieder damit anfangen. Ich habe mir geschworen, Yasmins Mörder zu finden und ich würde kein Auge mehr zutun können, weil ich den Schwur gebrochen hätte. Was du machen möchtest, liegt selbstverständlich in deinen eigenen Händen. Ob du aufhören willst, steht dir völlig frei."
Bei diesen Worten schaute er mich an. Doch ich konnte nicht einschätzen, wie weit ich gehen würde. Natürlich wollte ich, dass der Mörder, der vor langer Zeit meine Schwester getötet hatte, nicht ungeschoren davonkam und dass er endlich für seine Tat bestraft wurde. Aber ich wollte mich dadurch nicht in Gefahr bringen, sodass mich am Ende unter Umständen dasselbe Schicksal ereilte wie Yasmin. Das war es mir nicht wert.
Würde ich jedoch völlig loslassen können? In den letzten Tagen hatte ich bemerkt, dass die Suche nach dem Mörder auch von mir Besitz ergriffen hatte und dass ich bereit war, Grenzen zu überschreiten, die ich davor stets eingehalten hätte. Wäre mir meine Schwester nicht so wichtig gewesen, hätte ich dem Einbruch bei David womöglich nie zugestimmt.
Befand ich mich in der gleichen Lage wie Tristan und würde den Fall von damals nie begraben können, ohne ihn gelöst zu haben?
Würde ich es bereuen, nicht zusammen mit Tristan nach Yasmins Mörder zu suchen? Oder wäre ich froh darüber? Ich horchte tief in mich hinein, aber mein Bauchgefühl, auf das in solchen Situationen sonst immer Verlass war, schwieg.
Was würden meine Großeltern wohl sagen, wenn sie von allem erfuhren? Ob ich ausstieg oder Tristan weiterhin unterstützte, würde die beiden nicht vor der Neuigkeit bewahren. Dass es eine Diskussion geben würde, ahnte ich bereits jetzt. Aber ob ich weitermachte, war allein meine Entscheidung und darin sollte ich mich nicht beeinflussen lassen.
Deshalb straffte ich die Schultern. "Ich bin dabei."
Tristan nickte. "Ich hätte nichts Anderes erwartet."
In dem Moment, in dem sich unsere Blicke kreuzten, wusste ich nicht, wie ich diese Aussage auffassen sollte. Manchmal war Tristan mir noch ein Rätsel und ich fragte mich, wie er keine Miene verziehen konnte. Die Gewissheit, mit der er den Satz ausgesprochen hatte, ließ Unsicherheit in mir aufkeimen, da ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich darauf reagieren sollte.
Also sagte ich einfach nichts und starrte einen Punkt auf dem Boden an, um Tristan nicht in die Augen sehen zu müssen. Nervös spielte ich mit dem Saum meines T-Shirts und wartete darauf, dass Tristan das Wort ergriff.
Doch dieser blieb still und mich beschlich das Gefühl, dass er ahnte, wie sehr er mich verunsichert hatte und mich nun absichtlich nicht davon erlösen wollte. Die Worte schienen noch immer durch den Raum zu schweben und mir war, als würde ich sie bei jedem Atemzug erneut in mich aufsaugen.
Schließlich machte ich endlich den Mund auf. "Was sagst du Uwe, wenn er dich darauf anspricht?"
"Du meinst darauf, dass wir Yasmins Mörder suchen?"
Ich nickte und schaute ihn an. Eine Hälfte von Tristans Gesicht lag im Schatten, wodurch sich seine gerade, kräftige Nase stärker abhob und seine Wangenknochen betont wurden. Die fast vollständig hinuntergelassenen Jalousien ließen nur wenig Licht hindurch und die Dunkelheit verschluckte das Blau seiner Augen. Sie wirkten wie zwei gefrorene Wassertropfen.
"Das habe ich mir noch nicht überlegt. Wahrscheinlich werde ich ihm einen Teil davon erzählen. Nicht unbedingt von meinem Verdacht und dass wir bei David eingestiegen sind, aber vielleicht wie ich begonnen habe, mich für den Mord zu interessieren", antwortete er ruhig. "Mit der Geheimhaltung ist es jetzt sowieso vorbei, da kann ich mit gutem Gewissen einen Teil preisgeben. Auch wenn es mir lieber gewesen wäre, wenn nur Christel und du davon gewusst hätten."
Ein Seufzer wollte mir entweichen, aber ich schluckte ihn hinunter. Was würden Oma und Opa nur zu all dem sagen?

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