Kapitel 17

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Irgendwie machte mich seine Abwesenheit nervös und ich begann, auf der Stelle herumzutreten. Wo war er nur?
"Wer war denn alles in eurer Dorfclique?", fragte ich, um mich selbst ein bisschen abzulenken und Zeit zu gewinnen, bis Tristan hoffentlich zurückkehrte.
"Yvonne, Pauline und ich natürlich, aber auch Uwe, Bernd, Carmen, Merle und Thorsten", antwortete er und zuckte mit den Schultern. "Bis auf Yvonne wohnen wir alle noch hier im Dorf. Ein paar von uns hat es zwar zwischenzeitlich in die Ferne gezogen, doch alle sind wieder hierher gekommen."
"Dann ward ihr damals ja ziemlich viele, wenn man bedenkt, dass heute kein einziges Kind mehr hier wohnt", bemerkte ich.
David nickte. "Merle hat einen Sohn, aber der ist mittlerweile längst erwachsen und schließt bald sein Studium ab."
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich an den Jungen zu erinnern, der bestimmt sieben oder acht Jahre älter als ich war. Doch alles, was mir in den Sinn kam, war nur eine vage Vorstellung, wie er ungefähr ausgesehen hatte. Während meiner Besuche hier hatte ich kaum mit ihm zu tun gehabt, da der Altersunterschied zu groß gewesen war, als dass wir miteinander hätten spielen können.
Mit seiner Mutter, Merle, hatte ich jedoch ab und zu etwas unternommen. Sie arbeitete als Kindergärtnerin im nächstgelegenen Dorf und hatte mich manchmal dorthin gebracht, wenn Oma und Opa keine Zeit gehabt hatten. Als ich zu alt dafür gewesen war, waren wir auch manchmal baden oder in den kleinen Zoo in der Stadt gegangen. Doch in den letzten Jahren hatte ich sie kaum noch gesehen. Eigentlich schade, denn ich mochte Merle sehr. Vielleicht war es nun an der Zeit, ihr einen kurzen Besuch abzustatten.
"Wie geht es Merle? Es ist lange her, dass ich sie das letzte Mal getroffen habe", sagte ich und schaute David an.
"Gut, denke ich", erwiderte er und kratzte sich am Kopf.
Langsam nickte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich unser Gespräch sinnvoll fortsetzen konnte, ohne dabei zu weit zu gehen oder unpassende Fragen zu stellen. Aber dann beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen.
"Wie war meine Mutter früher? Hat sie sich verändert?", erkundigte ich mich und bemühte mich, dabei beiläufig zu klingen. Am liebsten hätte ich noch gefragt, ob er sie tatsächlich geliebt hatte und es vielleicht sogar bis heute tat, aber das traute ich mich nicht.
"Jeder Mensch verändert sich." David sah mir in die Augen und legte eine kunstvolle Pause ein. "Sie hat schon immer zu den Leuten gehört, die man einfach gern haben muss. Es gab niemanden, der sie nicht leiden konnte. Erst nach dem Abitur, als sie angefangen hat, ihre eigenen Wege zu gehen, gab es den einen oder anderen, der sie beneidet hat. Ich meine, sie hat eine kurze Zeit lang gemodelt und dann angefangen, zu studieren. Bei ihr lief alles perfekt und da ist es natürlich verständlich, dass einige Leute eifersüchtig waren."
Kurz flackerte ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Meine Großeltern besaßen noch eines der Fotos, die meine Mutter Anfang zwanzig zeigten, als sie in ein paar Werbekampagnen vertreten gewesen war. Sie war wirklich bildhübsch gewesen und hatte den Großteil ihrer Schönheit bis jetzt behalten.
"Wer hat sie denn beneidet?", hakte ich nach. Vielleicht würde das Tristan den entscheidenden Hinweis geben, wer in den engeren Kreis der Verdächtigen rückte.
Nun schien David meine Frage etwas unangenehm zu sein, denn er blickte zu Boden und vermied es, mich anzuschauen. "Nun ja", druckste er herum und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. "Zum Beispiel Merle."
"Wieso?", fragte ich und dachte an die liebe und stets hilfsbereite Merle.
"Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich, weil Yvonne immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als ihr. Außerdem hat deine Mutter ihr Abitur mit Bestnote bestanden und hat fast unmittelbar danach ihren ersten Modeljob bekommen. Ganz im Gegensatz zu Merle, die bei der Abschlussprüfung nicht wirklich glänzen und auch ihren Traum, Medizin zu studieren, nicht verwirklichen konnte", antwortete David und ich nickte.
Seine Vermutung hörte sich nachvollziehbar und vernünftig an, sodass sie Tristan bestimmt etwas nützte. Trotzdem traute ich Merle einen Mord nicht zu. Ihr Sohn war damals etwa im gleichen Alter wie Yasmin gewesen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ein anderes Kind umgebracht haben sollte. Schließlich hatte sie beruflich den ganzen Tag über mit Kindern zu tun und als Mutter würde sie ebenfalls sehr darunter leiden, wenn ihr Sohn seine einzige Spielkameradin verlor. Aber vor allem sah ich keinen Grund, über acht Jahre lang zu warten, bis man das Kind tötete, wenn man es davor ebenfalls hätte tun können.
Also gab ich nur ein zustimmendes Brummen von mir und wartete darauf, dass David noch etwas sagte. Er schien sich unsicher zu sein, ob er mehr erzählen sollte.
"Manchmal hat sie geflucht, dass Yvonne ihren Erfolg nicht verdient hat. Und das, obwohl Merle mit ihr eigentlich sehr gut befreundet war", fuhr er fort und zuckte mit den Schultern. "Aber das ist verständlich, schließlich lief bei ihr zu dieser Zeit nichts rund und sie ist von einem Fettnäpfchen ins nächste getreten."
Damit hatte er Recht. Vermutlich wäre ich damals an Merles Stelle auch eifersüchtig gewesen und hätte mich negativ gegenüber anderen Leuten geäußert. Vielleicht hätte ich deshalb sogar ein Hassgefühl gegenüber demjenigen entwickelt. Doch reichte das wirklich aus, um jemanden umzubringen?
Immerhin hatte Merle trotzdem einen Beruf gefunden, der ihr Spaß machte und eine Familie gegründet. Zwar lebte sie inzwischen geschieden, aber sie war dennoch ein lebensfroher Mensch, der stets voller positiver Energie steckte. Dass sie schlechte Laune hatte, kam nur dann vor, wenn sie gestresst war oder sich überfordert fühlte.
Bevor ich mir allerdings weiter Gedanken darüber machen konnte, hörte ich Schritte hinter mir und sah Tristan auf uns zukommen, als ich mich umdrehte. Sein Gesicht war leicht gerötet und er lächelte entschuldigend.
"Tut mir Leid, ich musste mal kurz", meinte er und legte mir eine Hand auf die Schulter. "Sieht so aus, als wäre dein Fahrrad jetzt wieder verkehrstüchtig."
"Das ist es hoffentlich", erwiderte ich und nahm David den Lenker ab. "Vielen Dank, dass du die Reifen gleich ausgetauscht hast."
Er nickte mir freundlich zu. "Kein Problem. Ich würde mich freuen, wenn du noch einmal vorbeikommst, während du hier bist." "Gerne", stimmte ich zu und gab ihm zum Abschied die Hand. Dann schob ich Omas Fahrrad ins Freie und wollte mir die Räder genauer anschauen, doch Tristan packte mich am Arm und zog mich ein paar Meter von der Werkstatt weg.
Gerade als ich den Mund aufmachte, um laut zu protestieren, legte er den Finger auf die Lippen und sah sich um, als wolle er sicher gehen, dass sich niemand in der Nähe befand. "Ich war im Büro", flüsterte er und seine Augen huschten erneut unruhig hin und her.
"Du warst also gar nicht austreten?", stellte ich fest, obwohl ich die Antwort schon kannte und mir langsam dämmerte, warum er so lange verschwunden gewesen war.
"Exakt. Und ich habe etwas gefunden", sagte er leise und schob mich mitsamt dem Fahrrad noch weiter weg, bevor er hinter seinen Rücken griff und etwas aus dem Bund seiner Jeans hervorholte, was unter seinem T-Shirt verborgen gewesen war.
Neugierig beugte ich mich vor.
Die Klarsichtfolie reflektiert einen Teil des Sonnenlichts und blendete mich, sodass ich kurz die Augen zusammenkneifen musste.
"Warte, nicht hier. Ich möchte nicht, dass uns jemand sieht", zischte er einen Moment später und ließ die Hülle wieder verschwinden. "Komm."
Ohne Widerworte folgte ich ihm. Ständig schaute er sich um, ob jemand in unserer Nähe war, was mich immer nervöser werden ließ. Was hatte er dort gefunden?
Erst als wir über hundert Meter zwischen die Werkstatt und uns gebracht hatten, hielt er an. In seinen Augen stand noch immer Vorsicht und ich bemerkte, dass seine Finger leicht zitterten, als er die Folie erneut in die Hände nahm und sie gegen seinen Oberkörper presste. Er schaute mich an und ich fragte mich, ob ich ihm durch Gedankenübertragung wohl vermitteln könnte, mir endlich zu zeigen, was er mitgenommen hatte.
"Wie bist du ins Büro gelangt?", fragte ich, um ihn etwas aus der Reserve zu locken.
"Im Prinzip war es ganz einfach. Als wir die Werkstatt betreten haben, habe ich gesehen, dass die Türe zum Büro offen stand. Zuerst hatte ich Bedenken, dass Pauline vielleicht da sein oder jemand mich erwischen würde, doch dann bin ich kurzerhand in einem unbemerkten Augenblick hineingegangen. Du hast David wirklich perfekt abgelenkt und ich glaube, dass er mein Fehlen gar nicht bemerkt hat." Tristan grinste triumphierend, bevor er wieder ernst wurde. "Es hätte keinen besseren Zeitpunkt geben können und ich habe gehofft, dort etwas zu finden, was mit Yasmins Tod zu tun hat."
Und anscheinend war er fündig geworden, denn nun begannen seine Augen regelrecht zu funkeln. Ich platzte schier vor Neugier und versuchte, einen Blick auf den Inhalt der Klarsichtfolie zu werfen.
Langsam streckte Tristan sie mir entgegen. "Man sagt ja, dass die meisten Mörder etwas als Andenken an ihrer Opfer behalten. Da haben sie wohl Recht."
Bevor ich danach griff, warf ich Tristan einen letzten fragenden Blick zu. Es klang so, als sei er sich absolut sicher, dass David damals meine Schwester umgebracht hatte. Fast wäre mir die Folie durch meine Hände gerutscht, so schwitzig waren sie inzwischen vor Aufregung.
Vorsichtig zog ich das Foto aus der Hülle und schnappte nach Luft. Dasselbe hing an dem kleinen Holzkreuz am Lavendelfeld. "Wie hast du das gefunden?", flüsterte ich und musste mich zusammenreißen, um nicht über Yasmins kindliches Gesicht zu streichen.
"Man muss nur wissen, wo man suchen muss", entgegnete Tristan und verschränkte die Arme.
Kopfschüttelnd betrachtete ich das Bild. Mir lief es abwechselnd heiß und kalt den Rücken hinunter. Warum besaß David diese Aufnahme von Yasmin? Ich hatte immer angenommen, dass sie nur meiner Familie zugänglich war.
"Wo ist sie gewesen?" Meine Stimme bebte leicht.
"In einem Aktenordner ganz hinten im Regal. Es lag sogar schon eine dünne Staubschicht darauf und fiel überhaupt nicht auf. Erst als ich ein paar andere Ordner zur Seite geräumt habe, bin ich auf ihn gestoßen. Und Bingo, darin war dieses Bild, sowie mehrere Zeitungsartikel über den Mord, alles sorgfältig hinter Rechnungen versteckt", meinte Tristan und man sah ihm den Stolz deutlich an. "Ich bin mir nun sicher, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat. Wieso sollte er all das sonst so gut versteckt aufbewahren?"
"Vielleicht hat er sich früher ebenfalls dafür interessiert?" Irgendwie klang ich nicht so, als sei ich wirklich von meiner Aussage überzeugt.
"Das lässt sich natürlich nicht ausschließen, aber warum sollte er das Bild und die Berichte ganz hinten im Regal verbergen?", erwiderte er.
Darauf wusste ich wieder einmal keine Antwort. Mit jedem Wort, das aus unseren Mündern drang, schien David verdächtiger zu werden.

LavendelblütenmordWo Geschichten leben. Entdecke jetzt