Kapitel 19

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Für einen Augenblick war ich wie gelähmt und meine Glieder fühlten sich an, als seien sie zu Stein erstarrt. Langsam klappte mein Mund auf und ich war zu nichts fähig, außer zu blinzeln und zum Dorf zu starren, aus dessen Richtung sich ein Auto näherte.
Erst als das Geräusch des Motors immer lauter wurde, löste ich mich und hastete zum Fenster. "Da kommt ein Auto!", rief ich ins Innere.
Ich hörte Tristan fluchen. "Wie weit ist es noch entfernt?"
"Die Hälfte der Strecke vom Dorf nach hierher ist es schon gefahren", erwiderte ich, nachdem ich einen hektischen Blick über die Schulter geworfen hatte. Mein Herz schlug immer schneller und ich sah mich panisch um.
"Dann klettere schnell hinein, ansonsten könnte dich der Fahrer sehen, wenn er vorbeifährt", drängte Tristan und ich schaute misstrauisch zu dem Fenster hinauf.
Für Tristan war es vielleicht ein Kinderspiel, in die Werkstatt zu gelangen, aber ich schaffte nicht einmal einen einzigen Klimmzug. Wie sollte ich also zu ihm gelangen? Das Auto kam näher und näher.
"Mach schon!" Tristan klang ungeduldig. "Ich helfe dir auch! Nimm Anlauf und versuche dann, dich nach oben zu ziehen!"
Ein letztes Mal beäugte ich das Fenster, bevor ich ein paar Schritte nach hinten machte und auf die Wand zurannte. Mit meiner gesamten Kraft sprang ich ab und bekam das Fenstersims zu fassen. Ich strampelte mit den Füßen und schaffte es, mich bis zum Bauchnabel hinaufzuziehen.
Zwei starke Hände ergriffen meine Arme und zogen an ihnen, sodass ich immer weiter durchs Fenster rutschte. Meine Jeans streifte die Kante des Sims und ich konnte wetten, dass ich mir gerade ein Loch hineinriss.
Gerade als ich Tristan sagen wollte, dass ich nun alleine hineinkam, verlor ich mein Gleichgewicht und purzelte mit dem Oberkörper voraus ins Innere der Werkstatt.
Bevor ich jedoch auf dem Boden aufschlagen konnte, fingen Tristans kräftige Arme mich in letzter Sekunde auf.
"Das war knapp", meinte er und ließ mich wieder los.
Vor Schreck konnte ich lediglich nicken. Meine Hände begannen zu zittern und ich wollte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Tristan mich nicht rechtzeitig gehalten hätte. Ich konzentrierte mich darauf, tief ein- und auszuatmen. Gerade fühlte ich mich, als habe ich soeben einen Herzinfarkt erlitten.
Tristan legte einen Finger auf die Lippen und ich hielt die Luft an. Das Motorengeräusch war nun deutlich zu hören und wurde immer lauter.
Wer fuhr denn um diese Zeit noch mit dem Auto? Es musste bereits nach Mitternacht sein. Derjenige hatte uns auf jeden Fall einen riesigen Schreck eingejagt.
Ich betastete vorsichtig mein Knie. Dort klaffte tatsächlich ein Loch in der Jeans und auch meine Haut tat weh, blutete zum Glück jedoch nicht. Um den Schaden genau in Augenschein zu nehmen, reichte das spärliche Mondlicht nicht aus, das durch das kleine Fenster fiel. Sobald ich zu Hause war, musste ich mir unbedingt eine gute Ausrede für die kaputte Hose einfallen lassen. Oder sie vor Oma verstecken.
Die Motorengeräusche näherten sich uns immer mehr. Doch gerade als ich dachte, sie würden lauter werden und schließlich in der Ferne verklingen, wurden sie leiser und verstummten schließlich. Man hörte eine Autotür zuschlagen und anschließend Schritte auf dem Pflaster.
Erschrocken sah ich Tristan an, dessen Blick Bände sprach. In seinen aufgerissenen Augen standen Erstaunen und gleichzeitig Panik.
"Wer ist das?", formte ich mit den Lippen, doch Tristan hatte sich schon wieder von mir weggedreht und lauschte hochkonzentriert.
Dann durchfuhr ihn plötzlich etwas und er schob die Ordner, die auf dem Boden verteilt lagen, allesamt unter den Schreibtisch. Gerade in dem Moment, als ich hörte, wie sich das Garagentor zur Werkstatt öffnete.
"Verdammt", stieß Tristan kaum hörbar aus und schnellte zu mir herum. Seine Augen huschten hin und her.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich sah ihn voller Angst an. Wer war dort? David, Pauline? Oder jemand anderes, der den Schlüssel zur Werkstatt besaß? Würde er das Büro betreten? Wenn ja, dann würde er uns mit Sicherheit entdecken. Und was uns dann blühte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen.
"Schnell, unter den Schreibtisch!", zischte Tristan mir zu und ich kauerte mich dort sofort zusammen. Er schob den Bürostuhl davor, doch dessen dünne Beine würden mich nicht verdecken können.
Kalter Angstschweiß bildete sich auf meiner Stirn und ich krallte die Hände in meine Arme, um mich mit dem Schmerz abzulenken. Unschlüssig blieb Tristan in der Mitte des Raumes stehen. Es gab keinen Platz, an dem er sich hätte verstecken können.
Nicht einmal ein Mensch mit Modelmaßen könnte hinter die Regale schlüpfen und unter dem Tisch hätte es auch nicht genug Platz für uns beide. Durch das Fenster nach draußen zu klettern würde zu lange dauern und zu viel Lärm machen.
Langsam kamen die Schritte immer näher und mein Puls beschleunigte sich mit jeder Sekunde. Die Ordner neben und unter mir drückten sich unangenehm in meine Beine und meinen Oberkörper.
Noch einmal suchten meine Augen die Umgebung nach einem geeigneten Versteck für Tristan ab, doch es schien aussichtslos zu sein. Es gab in dem kleinen Büro nichts, was jemanden vor Blicken verbergen konnte. Das erkannte Tristan offensichtlich auch, denn er warf mir einen hilflosen Blick zu. In seinem Gesicht standen Angst und Verzweiflung. Seine Augen schimmerten im fahlen Mondlicht und ich hätte nichts lieber getan, als ihm zu helfen. Aber ich, unter dem Schreibtisch eingequetscht, war absolut machtlos und konnte nichts tun, außer zu hoffen, dass derjenige nicht in das Büro kommen würde.
Tristan schaute sich ein letztes Mal um, dann stellte er sich neben die Tür. Genau in diesem Moment schwang sie auf und jemand betrat das Zimmer.
Ich wagte es kaum, zu atmen und duckte mich noch weiter. Mein Herz schlug so laut wie hundert Paukenschläge zusammen und ich traute mich nicht, unter dem Tisch hervorzuschauen. Zu gerne hätte ich gesehen, wer gerade auf der Schwelle zum Büro stand.
Meine Fingernägel gruben sich tiefer in meine Arme hinein, aber ich spürte den Schmerz kaum. Mein ganzer Körper war voller Furcht und ich spannte jeden Muskel an.
Würde man uns entdecken? Unser einziger Schutz war die Dunkelheit, die verhinderte, dass wir sofort gesehen werden konnten. Der Stuhl vor mir bot kaum Deckung und wenn man die Tür schloss, würde auch Tristans Versteck auffliegen. Im Moment konnte ich keinen Blick auf ihn werfen, da sein gesamter Körper von der Tür verdeckt wurde.
Langsam atmete ich aus, immer darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Wie eine Marmorstatue saß ich unter dem Tisch. Meine Knie taten weh, aber ich durfte mich keinen Zentimeter bewegen.
Für einen Moment war es still und nichts war zu hören. Kein Atemzug, kein Kleiderrascheln, nichts. Selbst eine Feder hätte man zu Boden fallen hören können. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen und erst wieder weiterzulaufen, als die Person einen Schritt ins Büro hinein machte.
Das spärliche Mondlicht fiel genau auf die schmutzigen Turnschuhe. Sie gehörten definitiv einem Mann, kaum eine Frau hatte so große Füße. Die Jeans, die der Mann trug, war am Saum schon etwas ausgefranst.
"Wo ist es denn?" Eindeutig Davids Stimme. Er schien nach etwas zu suchen und ich hoffte inständig, dass er es nicht in einer Schreibtischschublade aufbewahrte. Ansonsten würde er mich mit Sicherheit entdecken.
Als er einen weiteren Schritt nach vorne machte, wurde ich erneut von einer Panikwelle erfasst und wäre am liebsten aufgesprungen und weggerannt. Vor allem, da David nur ein paar Zentimeter von mir entfernt stehen blieb.
Nur ein paar Handlängen trennte uns voneinander und ich starrte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Beine. Er stand so nah, dass ich den Geruch nach Öl deutlich wahrnehmen konnte.
"Wo ist es denn?", murmelte er noch einmal und seine tiefe Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Angstschweiß stand auf meiner Stirn und ich traute mich nicht, zu schlucken, weil ich Angst hatte, dass David mich bemerken könnte. Was würde er dann meinen Großeltern erzählen? Dass ich nachts in der Werkstatt eingebrochen war, die Ordner durchwühlt und mich dann unter dem Schreibtisch versteckt hatte?
David machte einen Schritt zur Seite und gab somit den Blick auf die Tür frei. Sie war weit aufgerissen und ich konnte nicht einmal Tristans helle Haare dahinter entdecken. Er verstand es wirklich gut, sich zu verstecken.
Ich hörte wie David begann, Dinge auf der Tischplatte zu verschieben, als wäre darunter etwas verborgen. Abgesehen von mir.
Wonach suchte er wohl? Wollte er Unterlagen, nach denen Tristan gesucht hatte und die ihn verdächtig machten, mitnehmen und anschließend vernichten? Irgendwie hatte Tristans Drang, das Rätsel um Yasmins Mord zu lösen, auch schon von mir Besitz ergriffen. Seine Denkweise hatte definitiv bereits etwas auf mich abgefärbt.
Meine Hände waren inzwischen schweißnass und lagen noch immer verkrampft auf meinen Armen, wo sich meine Fingernägel in meine Haut gruben. Das Blut pochte in meinen Ohren und ich hätte wetten können, dass mein Puls im ungesunden Bereich lag.
Ich fühlte mich ausgeliefert. Nichts konnte mich vor Blicken schützen und ich selbst saß still da und konnte nichts tun. Weder konnte ich David ablenken, noch mich zur Not selbst in Sicherheit bringen, bevor er mich entdeckte.
Jeden von Davids Schritten beobachtete ich genau, um jederzeit zu wissen, was er gerade tat. Über mir hörte ich das Rascheln von Papier und wie Gegenstände hochgehoben und wieder abgesetzt wurden.
Gerade als ich meine Position im Zeitlupentempo minimal ändern wollte, beugte sich David zu mir hinunter.
Allerdings nur, um an der obersten Schublade zu rütteln und festzustellen, dass sie verschlossen war. Er schien mich nicht zu bemerken und sein Kopf war nicht tief genug, sodass er mir hätte in die Augen sehen können. Meine Beine hätte er jedoch entdecken können. Aber anscheinend hatte er im Moment ganz andere Gedanken, denn nun begann er, fieberhaft im Raum auf- und abzugehen.
"Wo hatte ich es denn das letzte Mal?", sagte er und hielt für einen Moment inne, bevor er weiter durchs Zimmer schritt.
Ich wurde immer neugieriger und hätte gerne einen Blick unter dem Tisch hervorgeworfen. Doch das Risiko, dass David mich entdecken könnte, war einfach zu hoch und ich konnte mich glücklich schätzen, dass er mich eben nicht gesehen hatte.
Langsam senkte ich meinen Kopf und lehnte ihn lautlos gegen das kühle Holz. Mein Gesicht glühte vor Nervosität und Anspannung und ich genoss die Kälte. Sie ließ mich wieder etwas zur Ruhe kommen, obwohl David noch immer durch den Raum lief und ich stets damit rechnen musste, dass er mich sah.
Plötzlich blieb er stehen und mein Herz stockte für einen Moment. Was war los? Hatte er endlich gefunden, wonach er die ganze Zeit lang Ausschau gehalten hatte? Oder hatte er mich gar entdeckt?
Sofort verkrampften sich meine Finger wieder und ich starrte auf seine Füße. Ich atmete nicht und erneut senkte sich Stille über das Büro, in der mir mein Herzschlag unendlich laut und verräterisch vorkam.
Niemand rührte sich und selbst die Tierwelt draußen schien für einen Moment lang inne zu halten. Kein Rascheln, kein Ruf eines Vogels, nur das leise Geräusch, als David einen Schritt in meine Richtung machte.
Mit Schrecken musste ich beobachten, wie er näher und näher kam, bis der Geruch nach Motoröl wieder in meine Nase drang. Wenn er jetzt in die Knie ging, war alles vorbei.

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