Kapitel 8

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Unwillkürlich versteifte ich mich und presste die Lippen aufeinander. Dass meine Schwester ermordet worden war, versuchte ich beim Gedanken an ihren Tod stets zu verdrängen.
"Ich begann, mich dafür zu interessieren. Vor allem, da der Fall bis heute nicht aufgeklärt wurde. Mit der Zeit besuchte ich immer häufiger die Gedenkstätte und langsam fühlte ich mich mehr und mehr mit ihr verbunden. An ihrem Todestag im April beschloss ich, der Sache näher auf den Grund zu gehen, weil ich das Gefühl hatte, es ihr schuldig zu sein."
"Vermutlicher Todestag", verbesserte ich automatisch mit monotoner Stimme.
"Du hast Recht, tut mir Leid. Jedenfalls war dies der Zeitpunkt, an dem ich beschloss, herauszufinden, was damals passiert war", sagte Tristan.
"Nicht einmal die Polizei ist damals zu einem Ergebnis gekommen. Es gab kaum Spuren und alle verliefen sich im Sand", ergänzte ich. Die Idee, auf eigene Faust noch etwas zu der Klärung eines Mordes beizutragen, war geradezu lächerlich.
Aber er ließ sich nicht von mir beirren. "Inzwischen kannte ich das Dorf gut genug, um zu wissen, dass Christel wahrscheinlich die beste Person war, um an Informationen zu gelangen. Auch wenn ich bezweifle, dass alles, was sie mir erzählt hat, zu hundert Prozent der Wahrheit entspricht."
Das wunderte mich nicht. Schließlich hatte Christel mir schon öfters versucht, haarsträubende Geschichten glaubhaft zu machen. Doch um mehr über Yasmin zu erfahren, war sie wahrscheinlich die Richtige, da sie eng mit meiner Oma befreundet war und alle Neuigkeiten meiner Familie sozusagen aus erster Hand erfuhr. Es war also eine kluge Entscheidung gewesen, zuerst Christel aufzusuchen.
Tristan räusperte sich. "Sie hat mir auch von einer jüngeren Schwester erzählt, die nun etwa in meinem Alter sei, jedoch nur in den Sommerferien ins Dorf kommen würde. Und als ich dich vorgestern gesehen habe, war mir sofort klar, dass du Yasmins Schwester sein musst."
Er hielt einen Moment inne, in dem er mich von oben bis unten betrachtete. "Ihr seht euch so ähnlich. Und das, obwohl ich Yasmin nur von Bildern kenne und der Altersunterschied zwischen euch so groß ist."
"Das sagt Oma auch immer", meinte ich leise und schaute auf meine Hände. "Ich hätte sie gerne kennengelernt."
"Hast du das nicht? Sie nie getroffen?", fragte Tristan ungläubig und ich schüttelte den Kopf. "Das tut mir Leid."
Schweigend saßen wir da und ich hatte das Gefühl, dass weder er noch ich die passenden Worte fanden, um unser Gespräch fortzuführen. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und ich spielte mit dem Saum meines T-Shirts. Tristan schaute mich wieder einmal an und ich fragte mich, wen er wohl gerade vor sich sitzen sah. Yasmin oder mich?
Auch wenn meine verstorbene Schwester und mich so viele Jahre trennten, empfand ich dennoch eine tiefe Verbundenheit. Wir hatten uns zwar nie gesehen, waren uns nie begegnet, doch trotzdem war sie immer da gewesen. In den Erzählungen meiner Großeltern hatte sie stets weitergelebt und durch das viele Besuchen ihrer Gedenkstätte, war sie mir über die Jahre hinweg vertraut geworden. Fast als hätte sie in den Stunden dort neben mir gesessen und meine Hand gehalten, wenn ich ihr von meinen Sorgen erzählt hatte. Zumindest hatte es sich in diesen Momenten beinahe so angefühlt.
"Christel hat mir nicht nur Dinge erzählt, sondern mir auch alte Fotoalben und Berichte in der Zeitung gezeigt. Und wenn sie von Yasmin spricht, kommt es mir vor, als würde sie sich noch an jedes einzelne Detail von damals erinnern", fuhr Tristan schließlich fort, nachdem ich nichts gesagt und ihn nicht angeschaut hatte. "Ich glaube, dass alles, was damals geschehen ist, das Dorf bis heute geprägt hat."
Damit lag er vermutlich richtig. Der Mord an Yasmin hatte alle hier ziemlich mitgenommen und zutiefst schockiert. Dass so etwas in einem verschlafenem Dorf wie diesem passiert war, erschien mir auch noch über eineinhalb Jahrzehnte später fast unglaublich.
"Möchtest du die Bilder sehen?", fragte Tristan.
Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker, doch ich gab einen zustimmenden Laut von mir und beobachtete, wie er eine Schulmappe aus dem schmalen Bücherregal hervorzog. Sie war unbeschriftet und ich war zum einen neugierig, was er darin alles über Yasmin aufbewahrte, aber gleichzeitig wollte ich nicht mit jemandem über so etwas Privates reden, den ich nicht einmal richtig kannte.
Langsam schlug Tristan die Mappe auf und ich rückte näher an ihn heran, um den Inhalt besser in Augenschein nehmen zu können.
Ganz oben lagen mehrere Karten, die meine Mutter heute noch für Freunde als eine Art Weihnachtsgeschenk gestaltete. Auf den Vorderseiten der Karten waren Bilder von meiner Familie aufgeklebt und mir wurde warm ums Herz, als ich das Geburtsfoto meiner Schwester entdeckte. Meine Mutter hielt sie im Arm, während mein Vater eine Hand um die Schultern seine Frau gelegt hatte. Beide strahlten in die Kamera und man konnte ihnen ansehen, wie glücklich sie waren.
"Die hat deine Mutter Christel geschenkt", erklärte Tristan und reichte mir die Weihnachtskarten.
Ich strich zärtlich mit dem Daumen über Yasmins Babygesicht. Warum hatte so ein wundervolles und verletzliches Wesen nicht länger leben dürfen? Obwohl ich mich das schon seit vielen Jahren fragte, schossen mir beim Anblick des Fotos die Tränen in die Augen. Bevor ich jedoch allzu sentimental werden konnte, besann ich mich.
"Das sind nur sieben Karten", stellte ich fest.
Tristan nickte. "Im achten Jahr hat deine Mutter keine verschickt."
Angesichts dessen, was in jenem und im folgenden Jahr geschehen war, konnte ich das nachvollziehen. Mama hatte erst wieder angefangen, Weihnachtskarten zu schreiben, nachdem wir in die Großstadt gezogen waren.
"Das hätte mir eigentlich klar sein müssen", meinte ich und seufzte. Die Bilder zeigten Yasmins Entwicklung und auf vier der Karten hatte sie unterschrieben, auf der letzten sogar in Schreibschrift. Ich konnte mir vorstellen, wie stolz sie darauf gewesen war.
"Und das sind die Zeitungsartikel, die Christel mir geliehen hat." Mit diesen Worten nahm er ein paar Seiten, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden, aus der Mappe.
Schnell wandte ich den Blick ab. Vor einigen Jahren hatte ich ein paar der Zeitungsausschnitte in die Hände bekommen und sie gelesen. Im Nachhinein hatte ich es bereut, da ich dadurch jedes schmerzliche Detail erfahren hatte. Danach hatte ich einige Tage damit verbracht, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden und nicht ständig an die Ermordung meiner Schwester denken zu müssen. Die Bilder, die während des Lesens in meinem Kopf entstanden waren, hatten mich noch lange verfolgt und mich selbst nach Wochen nicht losgelassen.
Tristan reichte mir den Stapel, aber ich nahm ihn nicht entgegen, sondern betrachtete weiterhin die Fotos auf den Weihnachtskarten. Zu dieser Zeit war noch alles im Lot gewesen. Meine Eltern und meine Schwester hatten ein bescheidenes, glückliches Familienleben geführt und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich es nie selbst erlebt hatte.
Ich schluckte und legte die Karten beiseite. Zwar redete ich gerne über Yasmins Charakter und ihr Verhalten, doch sobald ich über ihre Geschichte sprach, stimmte mich dies sofort traurig. Auch jetzt hatte ich das Gefühl, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
Mein Blick streifte die Zeitung und die dicke Überschrift des Artikels: 'Achtjährige vermisst'.
Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker. Es kam mir vor, als habe er bereits die Größe eines Germknödels erreicht.
"Hast du vielleicht etwas zu trinken?", krächzte ich und hustete.
Wortlos reichte Tristan mir eine angefangene Flasche Wasser und ich trank so lange, bis der Kloß verschwunden war.
"Kennst du die Artikel schon?", fragte Tristan vorsichtig und schaute mich an.
"Nein, weil ich zu dem Zeitpunkt noch nicht auf der Welt war und vor allem meine Mutter bis heute nicht gerne über Yasmin redet", meinte ich und zog meine Beine enger an mich heran, als wolle ich mich dahinter verbergen. Manchmal war ich froh darüber, dass mir alles erspart geblieben war.
Der Zeitungsartikel, der ganz oben lag, schien meinen Blick wie magisch anzuziehen. Das Bild, das unter der Überschrift abgebildet war, zeigte meine Schwester beim Spielen im Garten. Ihre braunen, schulterlangen Locken waren zu einem Zopf zurückgebunden, aus dem sich bereits einige Strähnen gelöst hatten und sie grinste breit in die Kamera, sodass man ihre breite Zahnlücke deutlich erkennen konnte.
Warum hatte jemand ein solches Kind nur umgebracht? Ich hätte einem Mädchen wie Yasmin niemals ein einziges Haar krümmen können.
Eigentlich hatte damals alles harmlos angefangen. Meine Schwester war acht Jahre alt gewesen und war an einem Nachmittag im späten August zum Spielen allein auf den Spielplatz neben dem Lavendelfeld gegangen, da es keine gleichaltrigen Kinder im Dorf gegeben hatte. Doch von dort war sie nie wieder zurückgekehrt.
Der Gedanke daran rief das Szenario vor meinem inneren Auge hervor, das ich mir schon so oft ausgemalt hatte.
"Ich habe mit Christel über dich geredet", meinte ich, um mich von meinen eigenen Gedanken abzulenken.
"Was hat sie erzählt?", fragte Tristan sofort.
"Nicht viel. Leider", fügte ich hinzu. "Sie hat zwar gesagt, dass du mit ihr gesprochen hättest, wollte mir aber partout nicht verraten, worüber ihr euch unterhalten habt. Weil es dir sehr wichtig gewesen wäre."
Ich wartete auf seine Reaktion, doch er musterte mich nur prüfend. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, obwohl sein Gehirn im Moment wahrscheinlich auf Hochtouren arbeiten musste.
"Ihr habt also über Yasmin geredet?" Es klang eher wie eine Feststellung.
Tristan verschränkte die Arme, erwiderte jedoch nichts. Man musste ihm wohl wirklich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.
"Wieso sollte sie niemandem etwas davon erzählen? So geheim ist Yasmins Tod nicht. Noch heute weiß jeder im Dorf davon." Nun beugte ich mich näher zu ihm hinüber und fixierte seine blauen Augen.
Er wich meinem Blick nicht aus, sondern schaute mich weiterhin geradezu emotionslos an, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
"Warum behält Christel plötzlich etwas für sich, obwohl sie das sonst nie tut?" Das war genau die Frage, die ich mir seit gestern stellte und ich hatte keine Antwort darauf finden können. Mir war nichts in den Sinn gekommen, was ihr außergewöhnliches Verhalten hätte erklären können.
Der Ausdruck in Tristans Augen veränderte sich plötzlich. Zwar konnte ich nicht feststellen, was er fühlte, aber immerhin starrte er mich nun nicht mehr so teilnahmslos an.
"Kannst du dir das nicht denken?", seufzte er schließlich.
"Hätte ich sonst gefragt?", entgegnete ich.
"Es hat einen ganz einfachen Grund: Der Mörder wurde damals nie gefasst. Und ich möchte nicht, dass er davon Wind bekommt, dass ich mich dafür interessiere und versuche, ihn zu finden", erklärte er. "Ich will nicht, dass er auf die Idee kommt, noch einen weiteren Menschen um die Ecke zu bringen."

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