Kapitel 20

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Vor meinem inneren Auge lief bereits das Szenario ab, wie David meinen Namen ausrief und ich ihn mit vor Schreck geweiteten Augen anstarrte, kein Wort herausbrachte und er mich anschrie, was ich hier mitten in der Nacht zu suchen hatte.
Jeder meiner Muskeln war in Alarmbereitschaft versetzt und ich biss die Zähne aufeinander. Meine Hände zitterten leicht und ich ballte sie zu Fäusten, um sie unter Kontrolle zu bekommen.
"Wer hat denn hier das Fenster offen gelassen?", murmelte David vor sich hin und machte zwei Schritte am Schreibtisch vorbei. Gleich darauf hörte ich, wie das Fenster geschlossen wurde.
Vor Erleichterung hätte ich am liebsten aufgestöhnt. Doch stattdessen atmete ich lediglich kaum hörbar aus und öffnete meine Hände wieder. Zudem entspannte ich meine Muskeln, bevor ich einen Krampf bekommen konnte. "Seltsam." David begann erneut, im Zimmer umherzugehen. Ab und zu blieb er stehen, aber nur um im nächsten Moment weiterzulaufen.
Ich fragte mich wirklich, wonach er suchte. Es musste etwas sehr Wichtiges sein, schließlich würde man sonst nicht um diese Uhrzeit zu seinem Arbeitsplatz fahren. Wollte er unter Umständen etwas mitnehmen, was mit Yasmin zu tun hatte? Vielleicht hatte er gespürt, dass Tristan ihm auf den Fersen war und wollte nun auf Nummer sicher gehen. Sodass diese nächtliche Aktion letzten Endes ganz umsonst gewesen wäre.
Plötzlich machte David ein paar schnelle Schritte. "Da ist es ja!", rief er aus und ich wagte es, den Kopf in seine Richtung zu strecken. Er stand vor einem Regal, aber sein Rücken verbarg, was er in der Hand hielt. Innerlich fluchte ich. Wenigstens dieses kleine Rätsel hätte ich gerne gelöst.
Mit einer Bewegung ließ er etwas in der Hosentasche verschwinden. Dann drehte er sich um und verließ mit schnellen Schritten das Büro. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Und mit Schrecken erkannte ich, dass Tristan nicht mehr da war.
Der Platz, wo er noch vor wenigen Minuten gestanden hatte, war leer. Ich war alleine hier.
Mir klappte die Kinnlade herunter. Wohin war Tristan verschwunden? Er musste sich in Davids Anwesenheit aus dem Staub gemacht haben. Vollkommen geräuschlos und unauffällig.
Wie war das möglich? Beinahe die ganze Zeit über war es so still gewesen, dass ich mich kaum getraut hatte, überhaupt zu atmen. Es grenzte an ein Wunder, dass niemand gehört hatte, wie er den Raum verlassen hatte. Für mich absolut undenkbar.
Und doch hatte er es irgendwie geschafft. Nicht einmal ich, die Meisterin darin war, zur späten Stunde noch nach unten zu schleichen, um sich am Kühlschrank zu bedienen, konnte so leise gehen. Tristan musste ein wahrer Profi sein. Oder ein Schatten.
Von draußen hörte ich, wie das Garagentor hinuntergelassen wurde. Kurz darauf ertönten Motorengeräusche, die schließlich immer leiser wurden.
Erst dann traute ich mich, unter dem Tisch hervorzukriechen und mich erschöpft dagegen sinken zu lassen. Langsam beruhigte sich mein Puls wieder und ich schüttelte meine Arme und Beine aus. Alles schmerzte und mein Rücken knackte, als ich ihn durchbog und aufstand.
Meine Hand tastete nach der Taschenlampe in meiner Tasche. Als meine Finger den Griff umklammerten, spürte ich nichts als Erleichterung. Der Lichtkegel huschte unruhig umher, als ich damit das Büro ausleuchtete.
Mit vorsichtigen Schritten lief ich zur Tür. Ich wusste selbst nicht, warum und vor was ich auf der Hut war, doch ich fühlte mich nicht wohl. Hoffentlich befand sich Tristan noch in der Werkstatt und war nicht nach draußen gegangen.
Langsam öffnete ich die Tür. Die ganze Garage vor mir lag im Dunkeln und ich konnte die Umrisse des Autos in der Mitte nur erahnen. "Tristan?", fragte ich unsicher.
Von irgendwoher erklang ein Scheppern und ich sah ein Licht aufleuchten. "Ich bin hier", sagte Tristan und kam auf mich zu. Seine blonden Haare standen wild vom Kopf ab und ein Fleck zierte seine linke Wange.
Zum Glück war er noch hier. Erleichtert stützte ich mich am Türrahmen ab. "Wo warst du? Auf einmal standest du nicht mehr hinter der Tür."
"Es war ein grottenschlechtes Versteck. Ich hätte jederzeit auffliegen können", erwiderte er und stieg über einen Schlauch.
"Unter dem Schreibtisch zu sitzen, war genauso riskant", sagte ich. Immerhin hatte mich nur ein kleiner Stuhl von David getrennt.
"Das stimmt. Jedenfalls habe ich mich in einem günstigen Moment aus dem Staub gemacht und mich stattdessen hier versteckt. Das Auto hat mir genügend Deckung geboten und trotzdem konnte ich alles beobachten", meinte Tristan und blieb vor mir stehen. Er leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht und ich kniff reflexartig die Augen zusammen.
"Du musst wirklich gut sein. Ich habe überhaupt nichts gehört und war zuerst sehr erstaunt, dass du auf einmal nicht mehr da warst", sagte ich.
Gleichgültig hob er die Schultern. "Früh übt sich."
Obwohl ich lieber nachgehakt hätte, beließ ich es dabei, lediglich die Augenbrauen hochzuziehen und Tristan einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Gerne hätte ich gewusst, was er damit meinte und was sich hinter seinen Worten verbarg, aber ich hatte das Gefühl, dass ich in dieser Sache lieber den Mund halten sollte.
"Was jetzt? Gehen wir?", fragte ich stattdessen und schirmte meine Augen mit der Hand ab, um nicht direkt in das helle Licht der Taschenlampe schauen zu müssen.
"Jetzt schon?" Tristan klang nicht sehr begeistert und schüttelte energisch den Kopf. "Davor möchte ich die übrigen Ordner durchschauen."
Ich seufzte. Mein Bett schrie nach mir und ich merkte, wie mich die Müdigkeit langsam überkam. Konnten wir nicht einfach wieder ins Dorf gehen? Nach diesem Zwischenfall wollte ich nicht noch jemandem begegnen, mit dem wir eigentlich nicht gerechnet hatten. Hoffentlich fiel Pauline nun nicht auch ein, dass sie hier nach etwas suchen musste.
"Was hat David hier eigentlich vergessen?", erkundigte ich mich, während ich einen Schritt zur Seite machte, um Tristan ins Büro hineinzulassen.
"Das konnte ich nicht genau sehen; aber ich gehe davon aus, dass es ein Handy war. Vielleicht hat er eine wichtige Nachricht erwartet und erst dann bemerkt, dass ihm sein Handy fehlt. Dann kann ich auch verstehen, wieso er um diese Uhrzeit noch einmal hierher fährt", antwortete er und ich nickte. "Wie gesagt, ich weiß es nicht genau, aber er hat etwas aus seiner Hosentasche geholt, das ungefähr die Größe und Form eines Handys hatte."
Tristan kniete sich vor dem Schreibtisch nieder und zog die Ordner hervor, auf denen ich mich vorhin zusammengekauert hatte. Er breitete sie in einem Halbkreis um sich herum aus und blätterte darin herum, während ich alles mit meiner Taschenlampe beleuchtete. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause und hoffte, dass Tristan bald etwas Aussagekräftiges fand.
Leise gähnte ich und setzte mich schließlich auf den Bürostuhl. Meine Augenlider wurden von Minute zu Minute schwerer und es wurde immer anstrengender, die Augen offenzuhalten. Wie gerne hätte ich meinen Kopf auf die Tischplatte gelegt und geschlafen, bis Tristan endlich fertig war. Aber ich wusste, dass ich danach nur noch müder sein würde und ich wollte auch nichts verpassen, falls er auf etwas stieß. So begnügte ich mich lediglich damit, ab und an kurz die Augen zu schließen.
Nach einer Zeitspanne, die mir endlos lang vorkam, sprang Tristan plötzlich auf. "Ich habe etwas!"
Sofort schrak ich aus meinem Halbschlaf hoch. "Was?", fragte ich mit einer Stimme, die klang, als habe man sie seit Stunden nicht mehr benutzt.
Tristan bückte sich und holte etwas aus einem der Ordner heraus. Selbst in dem schummrigen Licht konnte ich erkennen, dass er vor Aufregung rote Flecken auf den Wangen hatte. "Hier, schau dir das an!"
Müde rieb ich mir mit den Fingern über meine Augen und richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Papier, das er vor mich gelegt hatte. Ich brauchte einen Moment lang, um die dünnen Buchstaben überhaupt lesen zu können und beugte mich näher darüber.
Das Blatt war wahrscheinlich aus einem Block herausgerissen worden, wie auch ich ihn in der Schule benutzte. Jedoch schien es schon älter zu sein, denn der Farbton des Papiers hatte bereits ins Gelbstichige gewechselt und die Tinte darauf war schon etwas verblichen.
Mein Blick flog ans Ende der Seite. Dort stand groß Davids Name, das Einzige, was man noch sehr deutlich lesen konnte. Er war in schwungvollen und dicken Buchstaben geschrieben. Man hatte das ganze Blatt wohl schon einmal zerknüllt, denn man konnte die Konturen, wo es einmal geknickt worden war, noch gut erkennen. Zwar war es nun wieder geglättet, aber es erinnerte mich an meine unbrauchbaren Lösungen und falschen Rechenwege, wenn ich versuchte, meine Mathehausaufgaben zu machen.
Ich beugte mich noch weiter über das Papier und kniff die Augen zusammen, um das Datum am oberen, rechten Rand besser lesen zu können. Überrascht sah ich auf und blickte Tristan an. Das alles hatte David vor über dreißig Jahren geschrieben. Zu jenem Zeitpunkt musste er etwa in unserem Alter gewesen sein.
"Lies es", meinte Tristan und bedachte mich wieder mit diesem unergründlichen Blick, aus dem ich einfach nicht schlau wurde.
Langsam senkte ich den Kopf, sog dann jedoch scharf die Luft ein. Es war ein Brief an meine Mutter.
Ich starrte auf die verblichenen Buchstaben. "Liebe Yvonne", las ich. Wieder und immer wieder.
Langsam hob ich den Blick und starrte geradeaus. Der Brief war nur für meine Mutter bestimmt und es fühlte sich falsch an, ihn ohne ihre Erlaubnis zu lesen. In ihren privaten Angelegenheiten herumzuschnuppern, erschien mir wie ein Vertrauensbruch.
"Lies weiter", drängte Tristan und ich presste die Zähne aufeinander. Einerseits wollte ich wissen, was David ihr damals geschrieben hatte, andererseits sträubte ich mich bei dem Gedanken dagegen. Die Widersprüche in mir lieferten sich einen erbitterten Kampf und ich krampfte mich zusammen.
Schließlich gewann die Neugier jedoch die Oberhand und ich sah zum Anfang der zweiten Zeile. Eine Gänsehaut überlief mich, während ich las. Die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen ineinander und setzten sich dann wieder zusammen. Meine Lippen formten lautlos die Wörter, die David vor drei Jahrzehnten niedergeschrieben hatte. Jede einzelne Silbe brannte wie eine Flamme auf meiner Zunge und ich konnte nichts tun, um sie zu löschen.
Es war eine Qual, die Sätze zu lesen, die nur für meine Mutter gedacht waren. Vor meinem inneren Auge erschien ständig ihr Bild und ich musste mich beherrschen, um das Blatt kein zweites Mal zu zerknüllen. Manchmal zuckten meine Finger vor Verlangen danach, aber ich drückte sie mit Kraft gegen das kühle Holz des Tisches.
In meinem Kopf hörte ich Davids Stimme, der den Brief vorlas und ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien, um ihn zu übertönen. Es war unerträglich und ich kämpfte mich Zeile für Zeile durch den Brief.
Der letzte Satz ging mir durch Mark und Bein. Er ließ mein Herz aus dem Takt kommen und meine Unterlippe beben. Ich schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Doch der verfluchte letzte Satz wollte nicht aus meinem Gedächtnis verschwinden. Dazu David, der mir mit belegter Stimme zuflüstern zu schien: "Ich liebe dich."

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